Wolfram Ette

Europa und die Tragödie

Vortrag an der Leuphana, 9. November 2012

Zweite Fassung


[Nur zur internen Verwendung! Nicht ohne Rückfrage zitieren!]



I.


Mein Thema lautet »Europa und die Tragödie« und ich würde gerne zu Beginn im ersten Teil dieser Vorlesung begründen, warum ich die Tragödie überhaupt für wichtig halte und warum mir diese Form des Dramas relevant genug erscheint, in eine Ringvorlesung aufgenommen zu werden, die Sie mit diesem kulturellen Großgebilde namens Europa überblickshaft vertraut machen soll.

Es sind meines Erachtens drei Gründe, die die Tragödie zu einer kulturellen Schlüsselkonzeption Europas machen – oder zumindest bis zum ausgehenden zwanzigsten Jahrhundert gemacht haben.

Der erste Grund ist, dass es sich bei der Tragödie tatsächlich um ein spezifisch europäisches Kulturgut handelt. Natürlich argumentiere ich hier ein bisschen zirkulär, denn um das so sagen zu können, müsste man ja zunächst einmal wissen, was eine Tragödie eigentlich ist – und das versuche ich gerade, Ihnen im Verlauf dieser Vorlesung etwas näher zu bringen. Das heißt, Sie müssen jetzt meiner etwas vagen Versicherung Glauben schenken, dass es überall auf der Welt, in allen möglichen kulturellen Zusammenhängen und Räumen Dramen und theatrale Spielformen gibt; dass aber diese Formen der kollektiven Selbstverständigung der Menschen über die Grundlagen ihres Zusammenlebens, über die Konflikte, von denen ihr gesellschaftliches Zusammenleben begleitet ist, außer in Europa den Bezirk von Kultus und Ritus so gut wie nicht verlassen haben. Das heißt: nur in Europa hat sich das Drama von den kultischen Zusammenhängen, in denen es ursprünglich stand (noch die christliche Liturgie ist ja ein Beispiel für ein solches Kultdrama, das Ihnen vielleicht vertraut ist) soweit emanzipiert, dass es zur Tragödie als einer Form gekommen ist, in der religiöse Bindung und säkulare Autonomie, Schicksal und Freiheit konflikthaft aufeinanderprallen und gegeneinander verhandelt werden. Das bedeutet, es gibt keine Tragödie ohne Säkularisierung, und an den großen Säkularisierungsschüben der europäischen Geschichte, also im fünften vorchristlichen Jahrhundert in Griechenland und in der europäischen Neuzeit seit 1600 hat sich die Tragödie als eine Form, über solche gesellschaftlichen Umbrüche nachzudenken, angelagert. Die Tragödie ist ein Aufklärungsphänomen, und als solche gehört sie nach Europa.

Der zweite Grund: Die Tragödie ist nicht bloß ›Literatur‹ gewesen, sondern immer auch öffentliches Ereignis. Das Drama, die Tragödie, richtet sich nie an Einzelne, sondern seine Aufführung stellt eine kollektive Erfahrung dar, in der eine Gesellschaft oder eine Klasse sich über die Fundamente ihres Miteinander-Zusammenhängens verständigt. Natürlich ist mir genauso bewusst wie Ihnen, dass dieser Idealfall, in dem also ein Theaterstück an eine Gesellschaft im Ganzen, an ein integrales gesellschaftliches Kollektiv sich adressiert, nur in ganz wenigen Fällen erreicht wird. In der Regel sind es besondere Publika, sind es Eliten. Bereits im Griechenland des fünften Jahrhunderts ist es unklar, ob beispielweise Frauen zu den Aufführungen der Tragödien zugelassen waren. Das neuzeitliche Theater entwickelte sich zunächst als eine aristokratische Veranstaltung und wurde dann später von der aufstrebenden bürgerlichen Klasse übernommen, die es nach meinem Eindruck noch immer fest in Händen hält. Dennoch widerlegen diese Phänomene der Elitenbildung nicht den Anspruch des Theaters, sich an die Gesellschaft im Ganzen, ans gesellschaftliche Allgemeine zu richten, sondern bestätigen es; denn mir jedenfalls geht es ja so, dass ich Veranstaltungen des bürgerlichen Theaters, die darauf hinauslaufen, dass eine Klasse sich ihre eigene kulturelle Hohheit bescheinigt, eigentlich als Bruch zwischen Anspruch und Wirklichkeit des Theaters empfinde.

Der dritte Grund, aus dem ich die Tragödie für so wichtig halte, ist etwas komplizierter zu erläutern. Er betrifft nämlich den Zusammenhang zwischen Tragödie und Philosophie. Die Tragödie nämlich ist nicht bloß in dem Sinne über Literatur hinausgegangen, dass sie stets als ein öffentliches Ereignis inszeniert wurde, sondern auch dadurch, dass sie von Anfang das Interesse der Philosophie erregt hat – und zwar in extremem Maße. Es ist nicht übertrieben zu behaupten, dass die Tragödie das Genre, die Kunstform mit der höchsten philosophischen Dignität ist, also die Kunstform, der von Seiten der Philosophie die größte Aufmerksamkeit geschenkt wurde. Das beginnt mit Aristoteles, setzt sich dann über alle wichtigen Philosophen der Neuzeit bis heute fort.

Aber warum ist das so? Warum ist ausgerechnet die Tragödie so wichtig für die Philosophie, warum nicht das Epos, warum nicht die Lyrik, warum nicht die Musik? Warum nicht der Tanz, warum nicht die vielen anderen Formen der Kunst, die zwar von der Philosophie thematisiert wurden, aber längst nicht zu dieser überragenden Bedeutung erhoben wurde, wie es der Tragödie zuteil geworden ist. Das hängt nun meines Erachtens damit zusammen, dass die Tragödie und vor allen Dingen die Tragödie eine spezifische Herausforderung für die Philosophie darstellt. Die Tragödie ist so etwas wie ein Prüfstein, an dem sich bestimmte philosophische Grundüberzeugungen, denen die Tragödie zunächst einmal zu widersprechen schien, zu beweisen hatten.

Die erste dieser Grundüberzeugung ist die große These und nach meiner Ansicht auch die große Katastrophe, mit der die abendländische Philosophie beginnt, nämlich die These des Parmenides vom grundsätzlichen Vorrang des Seins vor dem Werden. Ich blende Ihnen zunächst einmal eine zentrale Stelle bei Parmenides ein, aus der das hervorgeht. Er sagt in einem Fragment (die Texte des Parmenides sind alle in Versen, in Hexametern überliefert; daher diese Erscheinungsform des Zitats):

So bleibt einzig | noch übrig die Rede von dem Weg, | daß (etwas) ist. An ihm sind sehr viele Kennzeichen: | daß Seiendes – wir können hier schon ergänzen: in Wahrheit Seiendes – ungeworden und unvergänglich ist, | ganz und einheitlich und unerschütterlich und vollendet. | Und es war weder noch wird es sein, da es jetzt zugleich ganz ist, | eins und zusammenhängend.

Was meint Parmenides damit? Parmenides will natürlich nicht sagen, dass alles Seiende, das der Zeit unterworfen ist, alles Seiende, das im Werdensprozess steht, alles Seiende, das geboren wird und stirbt und vergeht, schlechterdings nicht existiert –: soweit hat er sich dann auch nicht über den Augenschein hiweggesetzt. Sondern er will sagen, dass das Werdende philosophisch letztlich nicht relevant sei; dass es deswegen Schein sei, und dass es der philosophischen und wissenschaftlichen Erkenntnis eigentlich darauf ankommen, aus dem, was im Fluss des Werdens erscheint, überzeitliche Momente herauszuheben, Begriffe: Begriffe, die ihrerseits keinen Anteil an der Zeit haben, sondern ontologisch in einer außerzeitlichen Sphäre angesiedelt sind. Das meint er, wenn er sagt, dass (überzeitlich) Seiendes allein in Wahrheit ist und dass alles Werden der Welt des Scheins zugehöre.

Wenn Sie einen Augenblick auf Ihre wissenschaftliche Praxis oder auf den Charakter Ihrer eigenen Erkentnisprozesse reflektieren, dann ist diese These, die sich ja einmal furchtbar abstrakt und allgemein anhört, gar nicht so abwegig. Denn natürlich tun wir alle nichts anderes, wenn wir etwas erkennen, als dass wir einen bestimmten Gegenstand, der in der Zeit steht und der als ein einzelner Gegenstand vergänglich ist, unter einen Begriff subsumieren. Wir sagen: Das ist ein Tisch, das ist ein Buch, das ist ein Sonett und was wir damit tun, ist, dass wir den empirischen Gegenstand, der in der Zeit ist und natürlich unterhalb seiner begrifflichen Identität ein ganz bestimmter Tisch, ein ganz bestimmtes Buch, ein ganz bestimmtes Sonett ist, einem Begriff unterstellen und dass dieser Begriff auf eine eigentümlicher Weise wirklicher als die Sache selbst zu sein scheint. Diese scheinbar höhere Wirklichkeit des Begriffs, die an all den Formen – ich müsste besser sagen: Un-Formen – wissenschaftlichen Arbeitens sichtbar wird, wo sich die Theorie über die Erfahrungsgehalte der Sache hinwegsetzt, verbindet sich nun mit dem – außerzeitlichen Modus seiner Existenz.

Es mag dabei offenbleiben, ob man dieser Überwirklichkeit des außerzeitlichen Begriffs eine wirklich gegenständliche Qualität zuschreibt – wie Platon mit seiner Ideenlehre – oder ob man sie als eine intelligible – deswegen aber metaphysisch nicht weniger privilegierte – Funktion deutet. Entscheidend ist: der Begriff, der wissenschaftliche oder philosophische Begriff ist selber nicht zeitlich; und Parmenides sagt: Erkenntnis vollzieht sich immer so, dass sie das zeitlich Seiende ist das überzeitliche Sein des Begriffs.

Nun sagt Parmenides nicht ausdrücklich, dass das Sein als der oberste Begriff von allem außer der Zeit ist. Das ganze Werk, also das in verschiedenen Fragmenten überlieferte hexametrische Lehrgebäude kreist aber um diesen Gedanken der Zeitlosigkeit, den es begrifflich noch nicht zu fassen vermag. Deswegen diese ganz bildlichen, mythologischen Ausdrücke wie »ganz«, »einheitlich«, »unerschütterlich«, »zusammenhängend«, wo also auf das Sein als den höchsten philosophischen Begriff diejenigen Begriffe übertragen werden, die die Mythologie, von der Parmenides sich ja eigentlich abstößt, von den Göttern ausgesagt hat. Es ist also eine Philosophie, die selbst noch zwischen Philosophie und Mythologie steht und sich auf die These von der Zeitlosigkeit der Begriffe zubewegt, ohne es schon verbalisieren zu können.

Nun werden Sie sich wahrscheinlich fragen, was das alles mit der Tragödie zu tun hat, und worin denn nun die spezifische Herausforderung der Tragödie für die Philosophie besteht. – Nun, die Tragödie entsteht zu einer Zeit – ich hab es zu Anfang angedeutet –, in der die Menschen ihrer selbst als selbstständig handelnde Wesen bewusst werden. Das bedeutet aber, dass man etwas Neues in die Welt bringt. Zu handeln bedeutet, dass man zwar auf ein bestimmtes Ziel des Handelns hinauswill, dass man aber nicht sicher sein kann, ob dieses Ziel auch verwirklicht werden kann oder ob nicht etwas anderes sich stattdessen durchsetzt. Handeln, das mehr ist als bloßer Vollzug, zum Beispiel eines rituellen Vorgangs, sondern selbstständig eine neue Wirklichkeit entwirft, ist zukunftsoffen. Im Handeln also, das in der Tragödie zum ernsten Mal systematisch und mit einer ungeheuren phänomenologischen Fülle dargestellt wird, treten offene Werdeprozesse zu Tage. Prozesse mit offenem Ausgang werden öffentlich gemacht und auf die Bühne gebracht.

Und genau darin besteht nun ein Problem für die Philosophie. Der Bereich nämlich, in dem bis zu diesem Zeitpunkt das Werden sozusagen seinen angestammten Ort hatte, war der Bereich der Natur gewesen. Was nun die Natur betrifft, ist es aber nicht übermäßig schwer, dem Werden so etwas wie einen philosophischen Sinn zu unterstellen. Sie wissen alle, wie Naturvorgänge ablaufen, nämlich zyklisch. Die Jahreszeiten wiederholen sich, die Lebewesen sterben zwar, aber sie bekommen Kinder, die derselben Gattung zugehören wie sie, so dass sich also die Identität der Gattung reproduziert. Das heißt, es war der Philosophie möglich, das Werden in der Natur als eine Art Erscheinungsform, oder als Explikationsgestalt eines in sich selbst doch unbewegten, außer der Zeit seienden Seins darzustellen. Die vielen Generationen von Hunden zum Beispiel sind letztlich doch nur Erscheinungsformen dieser einen Gattung DES Hundes, der außerzeitlichen Begriffs vom Hund, der einer jeden, zeitlich-individuellen Erscheinung zugrundeliegen soll. Ebenso verhält es sich mit allen in der Natur vorkommenden Prozessen.

Was also die Natur betrifft, konnte sich die Philosophie in dieser Weise aus der Affäre ziehen. Im Falle der Geschichte im eigentlichen Sinne, also der Sphäre des menschlichen Handelns, worin Neues entsteht, das es vorher noch nicht gab, verhält es sich anders. Wie kriegt man so etwas philosophisch in den Griff? Darin besteht die Herausforderung der Tragödie für die Philosophie und sie hat über weite Strecken hin – es gibt da nur ganz wenige Ausnahmen – so reagiert, dass sie auch den tragischen Prozess, auch das, was im Drama dargestellt wird, letztlich doch statisch aufgefasst hat, nämlich als eine Explikationsgestalt eines in sich unbewegte, außer der Zeit seienden Seins. Das hat konkret zur Folge, dass das SCHICKSAL, entweder dem Begriff oder der Sache nach, in der philosophischen Tragödientheorie, eine so außerordentlich wichtige Rolle spielt. Denn was ist Schicksal? Schicksal ist, wenn am Ende das herauskommt, was am Anfang angelegt ist im Drama; wenn es also eine Art Identität von Anfang und Ende des Dramas gibt; wenn das Ende (natürlich nur latent, virtuell), bereits im Anfang steckt und das Drama zu nichts anderem dient als dieses Ende an den Tag zu bringen. Ich halte diese Auffassung von der Tragödie für vollkommen verkehrt, für grundsätzlich falsch und ich glaube, dass die philosophische Tragödientheorie ihren Gegenstand gar nicht verstanden hat; dass sie ihn aber gleichzeitig so verstehen musste, weil sie den Boden, den Parmenides für die europäische Philosophie und Wissenschaft bereitet hat, also: Vorrang des Seins vor dem Werden, letztlich nicht verlassen konnte. Bis in die Neuzeit ist es der Philosophie im Grunde kaum gelungen, offene Werdensprozesse systematisch zu erfassen und die Tragödientheorie bildet sozusagen eines der eklatantesten Beispiele für dieses Versagen der Philosophie.

Das wäre also der erste Grund, aus dem die Tragödie für die Philosophie so eine provozierende Herausforderung gewesen ist, der sie sich stellen musste, um nicht unglaubwürdig zu werden. Der zweite Grund ist damit verwandt, setzt aber einen etwas anderen Akzent. Sie alle wissen: In den Tragödien werden schreckliche Dinge dargestellt, also Menschen, die mehr oder weniger schuldlos zu Tode kommen, Leichenberge, die sich auf der Bühne türmen; und man fragt sich angesichts dessen mit Recht, was das alles soll. Hat das alles einen Sinn? Hat das Leiden des Ödipus einen Sinn? Hat das Gemetzel am Ende des »Hamlet«, das durch eine Reihe von Zufällen zustandegekommen ist, einen Sinn? Haben die Leichenberge am Ende der »Antigone« einen Sinn? Hat das Ende von »Romeo und Julia«, das nur durch einen dummen Zufall nämlich durch eine zeitliche Verspätung zustandegekommen ist – hat das einen Sinn?Und das wiederum stellt eine spezifische Form von Provokation für die Philosophie dar, die letztlich auf dem Boden der Annahme steht, dass die Wirklichkeit sinnvoll verfasst ist. Es ist eine eigene philosophische Diskussion, die ich hier nur antippen kann, dass Phänomene wie Zufall, Kontingenz, etwas, das nicht vorherbestimmt ist, Sinnlosigkeit im Grunde im prinzipiell rationalistischen Gebäude der Philosophie keinen rechten Platz gefunden haben (vielleicht bis dann recht spät im ausgehenden zwanzisten Jahrhundert Versuche in dieser Richtung unternommen wurden), und das deswegen die Herausforderung der Philosophie für die Tragödie eben darin besteht: Wie kann man dem, was hier dargestellt wird, diesen entsetzlichen Geschehenissen, die erstmal sinnlos erscheinen, dennoch irgendwie einen Sinn verleihen. Aus diesem Grund versucht die philosopohische Tragödientheorie also, der Tragödie ein Prozessmodell unterzuschieben, nach dem diese so anscheinnd sinnwidrigen Erscheinungen denn doch einen Sinn ergeben. Und da bietet sich eben wiederum der Begriff einen weiter nicht erkennbaren und analysierbaren Schicksals an.

Ich habe, um Ihnen den Überblick zu erleichtern, die drei Punkte, die ich jetzt hier genannt habe, und die mir für die Wichtigkeit der Tragödie für Europa zu sprechen scheinen, kurz zusammengefasst: Einmal also der spezifisch europäische Zusammenhang der Tragödie mit der Aufklärung und der der Säkularisierung als einem eigentümlich europäischen Phänomen. Zweitens der öffentliche, das heißt gesellschaftliche Charakter dieser Kunstform; dass also eine Tragödie immer eine Gestalt darstellt, in der ein gesellschaftliches Kollektiv sich selbst reflektiert. Und drittens ihre philosophische Dignität, die sich der Tatsache verdankt, dass die Tragödie formal – Stichwort: offene Werdensprozesse – und inhaltlich – Stichwort: Sinnlosigkeit des Leidens – eine Herausforderung für die Philosophie dargestellt hat.



II.


Ich mache jetzt einen thematischen und begrifflichen Sprung. Meine Vorlesung trägt ja den Titel »Europa und die Tragödie«. Mir ist aber in der Vorbereitung klar geworden, dass ich sie richtigerweise anders hätte nennen müssen, nämlich: »Zum Verhältnis von Trauerspiel und Tragödie in Europa«. Damit meine ich, dass die europäische Geschichte des Dramas – und das bedeutet ja auch: die europäische Geschichte der öffentlichen Auseinandersetzung mit gesellschaftlichen Werdens- und Entwicklungsprozessen – hin und herpendelt zwischen zwei Polen. Einer dieser Pole ist eben die Tragödie und der andere Pol wird repräsentiert durch eine andere dramatische Gattung, die ich bisher noch nicht eingeführt habe und der ich den Namen des Trauerspiels gebe.

Nun herrscht auf diesem Gebiet – das heißt auf dem Gebiet der Unterscheidung von Tragödie und Trauerspiel – ziemlich große Verwirrung. Ich könnte mir vorstellen, dass es auch eine Reihe gestandener Wissenschaftler gibt, die zumindest, wenn sie auf die Schnelle sagen müssten, was eigentlich der Unterschied zwischen Trauerspiel und Tragödie sein, in gewisse Schwierigkeiten kämen. Deswegen will ich versuchen, Ihnen hier grob diese Unterscheidung vorzuführen.

Der Erste, bei dem sie thematisch ist, der erste Autor also, der Tragödie und Trauerspiel systematisch voneinander differenziert hat, ist Walter Benjamin in seiner 1928 erschienenen Untersuchung über den »Ursprung des deutschen Trauerspiels« gewesen. Benjamin unterscheidet hier Tragödie und Trauerspiel zunächst historisch. Das heißt, er sagt: Die Tragödie gehört ausschließlich in die griechische Antike und das Trauerspiel gehört ausschließlich in die Epoche, mit der sein Buch sich besonders beschäftigt, nämlich in die Epoche des deutschen Barock. Benjamin sagt: Auch wenn die barocken Trauerspiele mitunter Tragödien genannt werden – sie sind es nicht, sie haben mit dem, was sich in den griechischen Tragödien zuträgt, im Kern nichts zu tun. Wie unterscheiden sich nun diese beiden Formen voneinander. Benjamin verortet, ganz ähnlich wie ich das am Anfang gemacht habe, die Tragödie im Prozess der griechischen Aufklärung; das heißt, in dem historischen Vorgang, in dem sich die Menschen aus den religiösen Bindungen und aus den traditionellen Wertvorstellungen lösen und sich auf ihre Autonomie besinnen. Die antiken Tragödien artikulieren auch bei Benjamin den Konflikt zwischen einer zum Selbstbewusstsein erwachenden menschlichen Gesellschaft und den alten religiösen Bindungen, die dieses Erwachen verhindern wollen. Es gibt einen frühen Aufsatz von Benjamin, der heißt »Schicksal und Charakter«, in dem Benjamin diese Einsicht zum ersten Mal formuliert:

In der Tragödie wird das (…) Schicksal durchbrochen (…) [In ihr] besinnt sich der heidnische Mensch, daß er besser ist als seine Götter (…) Es ist gar keine Rede davon, daß die ›sittliche Weltordnung‹ wieder hergestellt werde, sondern es will der moralische Mensch (…) im Erbeben jener qualvollen Welt sich aufrichten.

Drei Punkte dazu: Benjamin sagt auf der einen Seite, es sei gar keine Rede davon, dass die sittliche Weltordnung wiederhergestellt werde. Das heißt, es handelt sich um einen offenen geschichtlichen Prozess. Die Tragödie läuft nicht auf die Restaurierung einer vorangegangenen und irgendwie verletzten Weltordnung hinaus. Zweiter Punkt: Die Tragödie ist eine Rebellion gegen die Götter – eine Rebellion, die offensichtlich, da ja die sittliche Weltordnung ja nicht wiederhergestellt wird, von einem gewissen Erfolg gekrönt wird. Und drittens spricht Benjamin ja vom »moralischen Menschen«. Der moralische Mensch ist nicht einfach der schuldige Mensch, sonder er ist der Mensch, der über seine Schuld reflektiert und als derjenige, der über seine Schuld reflektiert, auch in der Lage ist, sie in Frage zu stellen. Der moralische Mensch ist gerade nicht derjenige, der irgendwelche Wertvorstellungen unbefragt übernimmt, er ist vielmehr derjenige, der diese Wertvorstellungen befragt. In diese drei Punkten vollzieht also die Tragödie einen Schritt über die mythische Weltordnung hinaus.

Diesen Ansatz hat Benjamin dann in dem Buch über den »Ursprung des deutschen Trauerspiels« fortgeführt und zwar so:

Die tragische Dichtung ruht auf der Opferidee. Das tragische Opfer ist aber (…) unterschieden von jedem anderen und ein erstes und letztes zugleich. Ein letztes im Sinn des Sühnopfers, das Göttern, die ein altes Recht behüten, fällt; ein erstes im Sinn der stellvertretenden Handlung, in welcher neue Inhalte des Volkslebens sich ankündigen … Der tragische Tod hat die Doppelbedeutung, das alte Recht der Olympischen zu entkräften und als den Erstling einer neuen Menschheitsernte dem unbekannten Gott den Helden hinzugeben.

Benjamin spricht hier vom Untergang des tragischen Helden und dieser Untergang des tragischen Helden steht offensichtlich einer doppelten Optik offen. Auf der einen Seite ist es ein Opfer an die alten, offenbar durch die heroische Rebellion verletzten Mächte der Vergangenheit. Auf der anderen Seite ist es sozusagen ein Opfer an die Zukunft. Hier wird schon etwas von der neuen, säkularen, ihrer selbst bewussten, emanzipierten und nicht dem Mythos verpflichteten Gesellschaft vorweggenommen, die die Tragödie ahnend entwirft.

Nun spricht Benjamin ja nicht ausdrücklich von einer säkularen Gesellschaft – im Gegenteil, er spricht etwas kryptisch vom »unbekannten Gott«, der offenbar die Instanz ist, auf die die neuen »Inhalte des Volkslebens«, von denen Benjamin zuvor spricht, sich orientieren. Ich meine, dass man dieser Stelle eine erste Korrektur an Benjamin anbringen muss. Benjamin beschreibt den gesellschaftlichen Wandel, welchen die Tragödie dokumentiert, als einen religiösen oder theologischen Vorgang. Es gibt die alten Götter des Mythos und es gibt diesen unbekannten neuen Gott der neuen Gesellschaft. Ich glaube, dass das im strengen Sinne nur für die Tragödien des Aischylos, also des ältesten der antiken Tragödienschriftsteller zutreffen mag, aber nicht für Sophokles und Euripides. Bei Sophokles gibt es schon sehr viel religiöse Skepsis und in manchen Stücken ein geradezu verzweifeltes Gottsuchertum; und bei Euripides vollends öffnet sich der tragische Prozess auf die Umrisse einer sich selbst organisierenden, säkularen Gemeinschaft. Ich würde also den rein theologischen Prozess, den Benjamin hier beschreibt, in Klammern setzen und durch den der der Sache nach richtigeren Säkularisationsprozess der griechischen Tragödie ersetzen.

Wie sieht es nun mit dem Trauerspiel aus? Ich sagte, das Trauerspiel gehört in die Epoche des deutschen Barock und auch das deutsche Barock ist, Benjamin zufolge, eine Epoche der Säkularisierung, das heißt eine Epoche, in der die alten, mittelalterlichen, christlichen Glaubensgewissheiten erschüttert sind. Sie unterscheidet sich aber von der christlichen Antike darin ganz substanziell, dass sie – also das Barock – sich krampfhaft an der mittelalterlichen religiösen Weltordnung festhält. Das Barock – das werden Sie sicherlich auch empfunden haben, wenn Sie einmal in einer barocken Kirche gestanden haben – hat eine ganz merkwüdig verkrampfte, überspannte Form von Religion ausgebildet; es ist in gewisser Weise eine Religion, die gar nicht mehr richtig an sich selber glaubt; und weil sie nicht mehr an sich selber glaubt, es um so hysterischer tut. Von dieser Art von religiöser Hysterie, also von der Verschmelzung von Transzendenzwillen und nihilistischem Untergrund legen die barocken Kirchen Zeugnis ab. Diese Weltsicht, oder besser: Weltsituation hat Benjamin im Trauerspielbuch so beschrieben:

Das Jenseits wird entleert von alledem, worin auch nur der leiseste Atem von Welt webt und eine Fülle von Dingen, welche jeder Gestaltung sich zu entziehen pflegen, gewinnt das Barock ihm ab und fördert sie auf seinem Höhepunkt in drastischer Gestalt zu Tag, um einen letzten Himmel zu räumen und als Vakuum ihn in den Stand zu setzen, mit katastrophaler Gewalt dereinst die Erde in sich zu vernichten.

Was Benjamin hier diagnostiziert, ist so etwas wie eine Entleerung des christlichen Jenseits. Diese Entleerung führt aber nicht dazu, dass es damit einfach ein Ende hätte und die Menschen diesseitig würden; es führt vielmehr zu einer ganz eigentümlichen, negativ-apokalyptischen Aufladung dieses Jenseits: die Ewigkeit ist nicht mehr Verheißung des ewigen Lebens, des Glücks, der Vergänglichkeit entzogen zu sein, sondern sie ist vor allem vernichtende Gewalt, die alles irdische Dasein bedroht.

Dieses Verhältnis von Irdischem und Transzendenz als vernichtender Gewalt hat sich dann vor allem im Trauerspiel als der verbindlichen dramatischen Form der Epoche niedergeschlagen. An einer Stelle des Trauerspielbuchs definiert Benjamin das Trauerspiel als ein »Spiel vor Traurigen.« Das hört sich zunächst einmal vollkommen trivial an; wenn man aber die Frage zu beantworten versucht: Warum denn sind die Zuschauer des Trauerspiels eigentlich traurig?, ist es gar nicht mehr so trivial. Sie sind nämlich traurig, weil das menschliche Dasein als solches, also seiner schieren kreatürlichen Existenz zufolge, zu Tod und Vernichtung verurteilt ist. Es gehört zur Quintessenz des Trauerspiels, dass das Handeln als solches, als zur menschlichen Existenz gehöriges keinen Sinn ergibt, weil die menschliche Existenz kreatürlich, sterblich, vergeblich, nichtig und sinnlos ist. Das Trauerspiel unterscheidet anders als die Tragödie nicht zwischen richtigem und falschem Handeln, sondern Handeln selbst ist sinnlos und insofern ist auch Geschichte selbst sinnlos. Das hat Benjamin an einer anderen Stelle so dargestellt:

Der Stand des kreatürlichen Menschen selber« - also dass der Mensch Naturwesen ist: durch Geburt zum Tod verurteilt - »[ist] der Grund des Untergangs. Diesen typischen Untergang, der so verschieden von dem außerordentlichen des tragischen Helden ist, haben die Dichter im Auge gehabt, wenn sie – mit einem Wort, das die Dramatik planvoller als die Kritik gehandhabt hat« – wo also die dramatischen Autoren klüger waren als die Theoretiker - »ein Werk als ›Trauerspiel‹ bezeichnet haben (…) [Das barocke Drama kreist um die Idee einer] Darstellung der Geschichte als eines Trauerspiels.

In der Geschichte insgesamt passiert nichts Neues. Die Geschichte insgesamt führt nur in den Naturzustand zurück.

Wenn wir also jetzt Tragödie und Trauerspiel noch einmal schematisch zu unterscheiden versuchen, ergibt sich uneefähr folgendes Bild: Tragödien sind Handlungsanalysen. Das heißt, sie sind immer von der Frage angetrieben: Gibt es zu dem, was hier dargestellt wird, Alternativen? Hätte man sich anders verhalten können? Wie hätte man sich anders verhalten können? An welchen Punkte hat das Geschehen, das Sie hier vor sich sehen, blinde Stellen, wo man die Dinge hätte anders ausrichten können? All das spielt im Trauerspiel keine Rolle. Hier geht es darum, zu zeigen, dass das menschliche Schicksal unabwendbar, also ohne dass man irgendetwas dagegen tun könnte, als kreatürliches Dasein dem Untergang geweiht ist. Die einzige Alternative, vor die das Trauerspiel seine Helden stellt, besteht darin, den schicksalshaften Untergang zu bejahen oder zu verneinen. Die meisten Helden der Trauerspiele verneinen ihn zunächst, um ihn dann am Ende zu bejahen. Der Weg des Trauerspiels führt von der Verneinung zur Bejahung des Schicksals, so dass also die einzige Möglichkeit, welche das Trauerspiel letztlich eröffnet, nicht auf ein besseres, anderes Handeln weist, sondern bloß darin besteht, auf das Handeln ganz zu verzichten und sich dem Schicksal passiv hinzugeben. Deswegen sind die Figuren des Melancholikers und die Narren, die ich unten auf der Folie kurz notiert habe, so wichtig. Es sind Figuren, die es in der Tragödie gar nicht gibt und auch nicht geben könnte, denn es sind Figuren des Nichthandelns. Der Melancholikers zieht sich grüberlerisch von der Welt zurück, und der Narr reflektiert sich lachend aus ihr heraus.

Soweit also die Unterscheidung zwischen Trauerspiel und Tragödie, und bevor ich Ihnen diese Unterscheidung nun an einem Beispiel deutlich zu machen versuche, ist es wichtig, Sie noch auf eine zweite Korrektur an Benjamin hinzuweisen, die mir notwendig erscheint, um mit dieser Unterscheidung, die er getroffen hat und in der sein großes Verdienst besteht, weiterarbeiten zu können. Der Mangel nämlich dieser Theorie von Benjamin liegt in ihrem geschichtsphilosophischen Schematismus, also darin, dass er sagt: Die Tragödie gehört in die Antike und das Trauerspiel gehört ins Barock. Er verkennt nämlich alle Übergangsphänomene, er verkennt die anderen Epochen, in denen ja auch Dramen geschrieben wurden, er verkennt die Mischformen: Wie etwas sieht es bei Seneca aus? Wie etwa verhält es sich bei Shakespeare, der ja zeitlich dem Barock schon relativ nahe steht? Wie sieht es mit den Dramen des Sturm und Drang, der Weimarer Klassik aus? Wie mit Büchner, wie mit Kleist? Wie sieht es mit mit den Dramen der Moderne aus, von Hofmannsthal bis Brecht – um sozusagen zwei Extreme einander gegenüberzusetzen? Auf alle diese Fragen gibt Benjamin einerseits keine Antwort, und er muss auch keine Antwort darauf geben, weil seine Untersuchung ja im Prinzip dem deutschen Trauerspiel des Barock gewidmet ist, aber er versperrt eben dadurch die Frage darauf dadurch, dass er die Theorie dieses barocken Trauerspiels einem so grundsätzlichen und so rigiden dogmatischem geschichtsphilosophischen Schema unterstellt. Und das muss man, glaube ich, fallenlassen, wenn man in der Frage nach dem Verhältnis von Trauerspiel und Tragödie weiterkommen will. Man muss also diese Begriffe dieser Fixierung auf bestimmte Epochen entkleiden, und wenn man das schafft, dann kann man schauen: Wie durchdringen sie sich in jeder einzelnen Epoche, wie durchdringen sie sich möglicherweise sogar in jedem einzelnen Stück? Wenn man das tut, kann man es hinbekommen, ausgehend von diese beiden Begriffen und ihrer Polarität eine Geschichte des ernsten Dramas Europas als ein Schwanken zwischen diesen beiden Spielformen und natürlich auch zwischen den ihnen zugrundeliegenden philosophischen Vorstellungen zu schreiben.



III.


Das, was ich bis zu diesem Punkt ganz abstrakt und rein theoretisch erörtert habe, möchte ich Ihnen nun an zwei Beispielen vorführen, die es etwas anschaulicher machen sollen. Ich habe dafür den »Ödipus« von Sophokles und des »Ödipus« von Seneca ausgewählt. Dazu hat mit zweierlei bewogen. Einmal hat es mich gereizt, Ihnen gerade am Stück des Sophokles, das im allgemeinen als das antike Schicksalsdrama par exellence gilt, vorzuführen, dass es sich um eine authentische Tragödie handelt; dass also im »König Ödipus« nicht bloß die Macht der Götter demonstriert werden soll, sondern dass die Fragen: Was hätte man tun sollen? wie hätte man sich anders und zwar besser verhalten können? eben die Fragen sind, die das Stück vorantreiben. An dem Seneca-Stück wiederum, das lange nicht so bekannt ist, hat mich angezogen, dass Seneca denselben Stoff bearbeitet – es ist dieselbe Geschichte -, dass er es aber schafft, diesen Stoff mit ein paar Federstrichen so umzuwandeln, dass aus einer Tragödie – Sophokles – ein authentisches Trauerspiel entsteht. Der »Ödipus« des Seneca dokumentiert die vollständige Transformation einer Tragödie in ein Trauerspiel und er steht damit für die Polarität, in denen die Geschichte des Dramas sich in den folgenden 2000 Jahren bewegt.

Also erst einmal zu Sophokles. In einem Aufsatz über den »König Ödipus« des Sophokles berichtet der irische Altphilologe Erec Robertson Dodds von einer Klausur oder einer Klassenarbeit, die er einmal hat schreiben lassen, in der es um dieses Stück gegangen ist; und er schreibt, dass nahezu alle Schüler oder Studenten, die sich dazu geäußert haben, der Ansicht waren, es gehe im »Ödipus« darum, die Unabwendbarkeit des götlichen Schicksals zu erweisen; um die Tatsache, dass der Mensch nichts machen kann, wie er sich auch dreht und wendet; dass alles, was er tut, ihn letztlich nur tiefer in die Schicksalsverstrickung hineinführen kann; dass es also darum gehe, die Ohnmacht des Menschen gegenüber den Göttern zu beweisen. - Dodds sagt: das ist alles verkehrt, sowohl was den »Ödipus« betrifft als auch, was die griechische Tragödie insgesamt betrifft und er stellt dann die Frage: Wie kommt das denn, dass sich diese Vorstellung vom »Ödipus« so hatnäckig hält. Er fragt: Wenn es denn im »Ödipus« nicht um die Demonstration der Allmacht göttlichen Schicksals geht, worum geht es denn dann eigentlich? Ich will versuchen, im folgenden auf diese beiden Fragen eine Antwort zu geben.

Zunächst zu der zweiten Frage: Worum geht es eigentlich im »König Ödipus«. Ich glaube, dazu ist es wichtig, sich die Figur dieses Ödipus etwas genauer zu vergegenwärtigen. Ödipus, das wissen Sie, erhält vom Orakel in Delphi die Prophezeihung, er werde seinen Vater töten und seine Mutter heiraten. Diese Prophezeihung hat einen ganz bestimmten historischen Index. Sie weist nämlich zurück in eine wenn Sie so wollen, mythische Vorzeit, in der das, was hier prophezeiht wird, nicht unbedingt ein Verbrechen war, sondern im Grunde normal: Der Sohn rückt in die Rolle des Vaters; der Vater stirbt – es gibt auch Fälle, in denen es die Aufgabe des Sohnes war, den alten, und zum Regieren nicht mehr fähigen Vater zu töten – es geht ja hier um Thronfolgeregelungen -, um dann in seine Position aufzurücken. Er wird dabei auch zum Ehemann der Königinmutter. Einen schwachen Abglanz dieses alten genealogischen Modells finden Sie mitunter jetzt noch in alten Familienunternehmen, in denen der Sohn auch den Vornamen seines Vaters führt, so dass es dann zu diesen Schildern kommen kann, auf denen steht: Rechtsanwaltspraxis Gerd Weßling junior – da merkt man, dass etwas überlebt hat von der Vorstellung, dass der Sohn dem Vater in die Spuren tritt und in gewisser Weise mit seiner Person verschmilzt. So ähnlich müssen Sie sich das auch für die prähistorische Stammesvergangenheit vorstellen, halt nur viel viel extremer; viel mehr ins Extrem gesteigert.

Das ist also die historische Substanz dieses Orakels und Ödipus rebelliert dagegen. Das will er nicht. Er will, etwas moderner formuliert, nicht eins sein mit seinen Eltern; er will nicht das machen, was ihm von elterlicher Seite vorherbestimmt ist, er will ein eigenes Leben führen, er will einen Schnitt zwischen sich und der voprangegangenen Generation setzen. Das heißt, er ist Aufklärer, er ist ein Rebell: er rebelliert gegen die Ursprungsmächte, die eben auf die Wiederkehr des Immergleichen, auf die mythische Gottkönigfolge vereidigen wollen; und das Drama zeigt, dass er mit dieser Rebellion scheitert.

Die Frage ist, warum er scheitert, und dazu kommt, glaube ich, noch ein zweites Moment hinzu, das mir für die intellektuelle und persönliche Statur des Ödipus außerordentlich wichtig zu sein scheint. Ödipus ist nämlich nicht einfach bloß Aufklärer, sondern er hat zugleich Angst. Er ist Aufklärer aus Angst. Das zeigt sich in der Geschichte daran, dass er, als er dieses Orakel von Delphi bekommt, wegläuft. Es ist ja nicht so, dass er denen gehen würde, die er für seine Eltern hält – Merope und Polybos, seine Adoptiveltern – und sagen würde: Was ist denn nun? Soll ich Dich, meinen Vater, töten; soll ich mit Dir, meine Mutter, ins Bett gehen? - wodurch sich ja die falsche Elternschaft, von der er nichts weiß, sofort aufklären würde. Nein, er läuft einfach weg, und in diesem Weglaufen manifestiert sich natürlich die Macht, die diese Ursprungsgewalten immer noch über ihn haben, nur um so deutlicher. Es ist also diese Verschränkung von Rebellion und Angst, die für Ödipus ganz charakterisch ist und die seinen Untergang befördert, so dass wir also als erste message dieses Stücks annehmen können, dass eine Aufklärung, die aus Angst geboren ist – ganz ähnlich, wie das dann 2500 Jahe später Adorno und Horkheimer in der »Dialektik der Aufklärung« formuliert haben – und die ihre eigene Angst nicht in den Griff bekommt, scheitern muss und letztlich, wie Adorno und Horkheimer das formulieren, in Mythologie zurückschlägt.

Das ist aber kein alternativloser Vorgang, sondern das Stück stellt die Frage: Wie ist eine Aufkärung möglich, die angstfrei wäre, die ihre eigene Angst reflektieren würde? Wenn das nämlich möglich wäre, könnte es anders ausgehen, als es tatsächlich ausgeht.

Ich will Sie jetzt auf ein paar neuralgische Stellen hinweisen, an denen das sichtbar wird. Dass nämlich der Ödipus tragisch endet, hängt letztlich an einem einzigen Wort. Es ist ein Wort, das zwischen ihm und seiner Mutter Iokaste fällt, nämlich das Wort vom »Dreiweg«. Ich lese Ihnen diese Stelle erst einmal vor:

Iokaste: Und ihn erschlagen später fremde Räuber an | der Scheide dreier Wagenstraßen, wie man sagt … | Ödipus: Wie faßt nach dem, was ich soeben hörte, Frau, | Verwirrung meinen Geist, Erschütterung mein Herz! | Iokaste: Und welche Sorge regt dich auf, dass du so sprichst? | Ödipus: Ich meinte, dies von dir zu hören: Laios | ward an der Scheide dreier Straßen umgebracht. | Iokaste: Das sagte man, und heute noch ists nicht verstummt … | Ödipus: Weh mir! Es scheint, ich habe selbst soeben mich | in grauenhaften Fluch verstrickt und weiß es nicht. (Vers 715 ff.)

Warum ist diese Wort des Dreiwegs so wichtig? Lange bevor Ödipus nach Theben kam, begegnete er an einem Dreiweg zwischen Theben und Delphi einem alten Mann, der sich weigerte, ihn durchzulassen. Er und der alte Mann gerieten darüber in Streit und im Verlauf dieses Streits erschlug den Ödipus den alten Mann und einen Großteil seines Gefolges. Was Ödipus nicht wusste, ist, dass dieser alte Mann sein Vater Laios gewesen ist. Das Drama ist nun so aufgebaut, dass es als Suche nach dem Mörder des Laios in Szene gesetzt wird und diese Suche nach derm Mörder des Laios überlagert sich an dieser Stelle mit Ödipus eigener Erinnerung an dieses Ereignis und ihm wird langsam klar, dass er selbst der gesuchte Mörder sein könnte; dass er also derjenige sein könnte, der sich selbst verflucht hat – darauf bezieht sich das letzt Wort dieser Stelle.

Nun muss man fragen: Wie kommt es denn zu der Szene? Wie kommt es überhaupt dazu, dass Iokaste und Ödipus sich hier unterhalten? Iokaste kommt auf die Bühne, weil es zuvor einen Streit gegeben hatte und zwar zwischen Ödipus und Kreon. Ödipus hatte nämlich dem Kreon vorgeworfen, dass er zusammen mit dem Seher Teiresias ihm nach dem Thron trachte, dass sie also die Macht im Staate usurpieren wollte. Dazu hat es bisher keine Indizien gegeben – Kreon ist immer loyal und brav gewesen und hatte überhaupt nicht erkennen lassen, dass er an der Macht interessiert sei -, so dass Ödipus‹ Vermutung einigermaßen abwegig wirkt. Ödipus kommt aber darauf im Streit mit dem Seher Teiresias, der wiederum der Auseinandersetzung mit Kreon vorausgeht. In diesem Streit mit Teiresias hatte dieser den Ödipus bezichtigt, selbst der gesuchte Mörder zu sein. Das aber kann Ödipus nicht glauben (und er kann es nicht glauben, wie ich Ihnen gleich noch genauer zeigen möchte, weil er schon ahnt, dass er gerade der Mörder des Laios sei und diese Ahnung mit größter Vehemenz verdrängt) und weist es mit aller Vehemenz von sich. Deswegen kommt er auf den einigermaßen fernliegenden Gedanken, der blinde Seher, der bisher auch nicht auffällig gewesen ist wolle durch diese Behauptung ohn vom Thron drängen; und Kreon wiederum sei nichts anderes als das sehende und willfährige Werkzeug des Blinden.

Wenn man sich das durchliest, wie Ödipus darauf kommt, kann man sich des Eindruck einer gewissen Paranoia der Macht nicht erwehren. Die Raschheit, mit der er zwei Leuten, die sich ihm gegenüber bisher loyal verhalten haben, unterstellt, ihm die Macht wegnehmen zu wollen, zeigt an: Hier stimmt etwas nicht, hier ist sich jemand seiner Macht gar nicht ganz sicher; hier ist jemand sozusagen ständig auf dem Sprung, zu befürchten, dass ihm jemand die Macht wegnehmen will. Und er ist auf dem Sprung, weil er dieser Macht selber nicht ganz sicher ist, weil er also ein UNBEWUSSTES WISSEN, ein unbewusstes Schuldgefühl mit sich führt, dass es mit dieser Macht nicht so ganz seine Richtigkeit haben kann.

Nun habe ich hier den Begriff des Unbewussten verwendet, was man normalerweise nicht zu tun pflegt, wenn man sich mit der Antike als einem sogenannten vorpsychologischen Zeitalter befasst. Ich glaube aber dennoch, dass dieser Begriff hier ganz richtig am Platz ist; dass man also sagen kann: Genau in dieser Verschränkung von Angst und Aufklärung führt Ödipus ein unbewusstes Schuldgefühl mit sich – und es ist eben dieses unbewusste Schuldgefühl, das ihn zu der paranoiden Unterstellung führt, Kreon und Teiresias wollten ihm nach der Macht trachten – was dann wiederum Iokaste auf den Plan ruft, die das verhängnis- und folgenreiche Wort des Dreiwegs äußert. Von diesem Moment an rollt das Drama dann ab, dessen tragischer Ausgang letztlich am Schuldgefühl des Ödipus hängt, das ihm bei seinem Aufklärungswerk massiv im Wege steht.

Ich will Ihnen noch eine zweite Stelle einblenden, die das auf eine schlagende und vollkommen überraschende Weise zeigt. Es handelt sich um ein Gespräch zwischen Kreon und Ödipus zu Beginn des Dramas. Kreon berichtet von der Ermordung und sagt:

Kreon: Räuber überfielen sie, ihn nicht | mit einem Arm zu töten, nein, durch Übermacht. | Ödipus: Wie ging denn wohl der Räuber, wenn er nicht mit Geld | von hier gedungen war, so weit im Frevelsinn? (Vers 122 ff.)

Kreon sagt: es waren Räuber – Mehrzahl. Er betont das sogar. Und Ödipus ersetzt das ganz selbstverständlich durch den Singular »der Räuber«. Das heißt, er erinnert sich unbewusst an seine eigene Begegnung mit dem alten Mann und an den Mord, den er damals beging. Er ist der Räuber, er ist der Einzelne. Er tut das zu einem Zeitpunkt, zu dem überhaupt noch nicht klar ist, dass sich das Netz um ihn zusammenzieht, aber unbewusst weiß er eben doch schon. Das heißt, er trägt dieses Schuldgefühl mit sich herum, und es ist dieses Schuldgefühl vor allem, das dann das Wort vom Dreiweg und damit das tragische Ende des Dramas verursacht. Das heißt, wir müssen hier ansetzen, wenn wir nach einem alternativen Ausgang, nach einer anderen Möglichkeiten des tragischen Verlaufs fragen wollen.

Wie hätte ein alternativer Ausgang auszusehen? Was hätte passieren müssen, damit es – um diese provozierende Frage einmal zu stellen – gar nicht zum Drama von Ödipus kommt? Was hätte er besser machen können? Er hätte, so meine ich, seine Verantwortung für das Wohl des Staates, also seine eigentlich gesellschaftliche Veranwortung als Souverän wahrnehmen müssen. Es ist ja so, dass ab einem bestimmten Punkt im Drama – und zwar schon sehr früh – Ödipus das Wohl der Gesellschaft, der der ja als ihr König vorsteht, aus dem Blick verliert und nur noch auf der Suche nach seiner eigenen Identität und seiner eigenen Verstrickung ist; das heißt, er handelt in einem spezifischen Sinn egoistisch und denkt nicht mehr an die Allgemeinheit.

Es ist vor allem ein Autor gewesen, nämlich Friedrich Hölderlin in seinen epochemachenden »Anmerkungen zum Ödipus«, der auf diesen Sachverhalt aufmerksam gemacht hat: dass sich Ödipus seiner gesellschaftlichen Verantwortung entzieht und dass er, wenn er diese gesellschaftliche Verantwortung wahrgenommen hätte, es zu einem anderen, nicht tragischen Ausgang des Dramas gekommen wäre. Hölderlin beschreibt das so:

Nemlich der Orakelspruch heißt: ›Geboten hat uns Phöbos klar, der König, | Man soll des Landes Schmach, auf diesem Grund genährt, | Verfolgen, nicht Unheilbares ernähren.‹

Also als Grund für die Pest in Theben, mit der das Stück beginnt, wird sehr allgemein »des Landes Schmach« angegeben, irgendetwas, das falsch gelaufen ist in diesem Land. Hölderlin fährt fort:

Das konnte heißen: Richtet, allgemein, ein streng und rein Gericht, haltet gute bürgerliche Ordnung. Oedipus aber spricht gleich darauf priesterlich: ›Durch welche Reinigung, etc.‹ Und gehet ins besondere, ›Und welchem Mann bedeutet er diß Schiksaal?‹ Und bringet so die Gedanken des Kreon auf das furchtbare Wort: ›Uns war, o König, Lajos vormals Herr in diesem Land’ , eh du die Stadt gelenket‹.

Hölderlin schildert also diese entscheidende Szene, dieses Gespräch zwischen Ödipus und Kreon als Prozess einer immer weitergehenden Einengung der Fragestellung. Am Anfang steht noch die Stadt, das Wohl der Stadt, ein im eigentlichen Sinn politisches Handeln des Souveräns. Am Ende steht nur noch die persönlich Geschichte des Ödipus, und es ist charakteristischerweise auch so, dass am Ende des Stücks vollkommen offen bleibt, ob denn jetzt nun die Pest in der Stadt vorbei sei oder nicht. Die Frage wird gar nicht mehr gestellt: das dokumentiert vielleicht am deutlichsten die egozentrische Einengung eines politischen auf ein persönliches Problem.

Dass sich Hölderlin diese »gute bürgerliche« Ordnung, um die zu kümmern Ödipus ab einem bestimmten Zeitpunkt versäumt, nicht einfach bloß ausgedacht hat, belegt ein weiteres, soweit ich sehe, weithin gar nicht wahrgenommenes Detail des Sophokleischen Textes. Das erste Chorlied – die griechischen Tragödien finden ja stets im Wechsel von dialogischenund chorischen Partien statt – also das erste Chorlied diese Stücks bringt nämlich die Pest in Theben, mit der es beginnt, in einen engen Zusammenhang mit dem Gott des Krieges (mit Ares) und der Chor fleht die anderen, die stadtbeschützenden Götter wie Zeus, Artemis, Apollon und am Ende auch Dionysos an, diesen Ares zu bekämpfen und aus der Stadt zu vertreiben. Die Frage ist: Warum macht er das eigentlich? Das steht so merkwürdig quer zu der ganzen weiteren Handlung des Dramas, das man es auf die Schnelle gar nicht leicht erklären kann – außer, man betrachtet es als bloße Dekoration. Ich zitiere Ihnen einen Auszug dieses Chorliedes:

Den Zermalmer Ares auch, | Der jetzt, vom Schilde nicht gedeckt, | Von Lärm umtönt, mit Fieberglut mich anfällt, | Ihn treib in rückgewandtem Lauf zur Vaterstadt | Hinaus, ins weit offene | Lager Amphitrites | Dort, oder in Thrakias öde | Bucht, die meerumbrauste. | Denn er vollbringt es; was die Nacht | Übrig lässt, verschlingt der Tag. | O Zeus, Allvater, du, | Roter Blitze Kraft | Beherrschend, unter deinem Donner tilg’ ihn! (Vers 190 ff.; Übersetzung von Donner)

Die Verbindung, die hier geschlagen wird, ist ja offensichtlich eine Verbindung zwischen Krieg und Pest, und es ist einmal eine literarische belegte Verbindung: die Griechen vor Troja, in der Ilias werden auch im Lager von der Pest überfallen. Darüber hinaus ist es historisch gut belegt, weil wenige Jahre vor der mutmaßlichen Aufführung des »König Ödipus« von Sophokles in Athen, das heißt in den ersten Jahren des Peloponnesischen Krieges, eine große Pest ausbrach. Die Frage ist also: Sollen wir daraus schließen, dass Theben – ganz ebenso wie Athen – unter den Folgen eines Krieges leidet, und dass es nach Ansicht des Chores die wichtigste Bedingung zur Gesundung dieser Stadt wäre, dass wieder zivile und friedliche Verhältnisse einkehren? Wäre das tatsächlich die Aufgabe des Ödipus gewesen? Wir erfahren darüber nicht in dem Stück, aber es wird durch das Chorlied, das überdem gesungen wird, nachdem Ödipus die Ermordung des Laios zu seiner Sache gemacht hat, massiv nahegelegt, dass hier eine entscheidende Wendung verpasst wird.

Ich hatte gesagt, dass Ödipus nicht so sehr von Angst und Schuldgefühl hätte getrieben sein müssen, damit er sich anders, also als politisch verantwortungsvoller Souverän hätte verhalten müssen. Darauf, dass das eine zentrale Empfehlung ist, die Sophokles gibt; dass eine Aufklärung nur dann diesen Begriff verdient, wenn es ihr gelingt, sich von Angst und Schuldgefühl zu befreien, hat Sophokles in seinem letzten Stück, dem »Odipus in Kolonos« hingewiesen. Das ist ein Stück, das vom alten Ödipus handelt und in dem meines Erachtens Sophokles versucht, auf die ungelösten Fragen, die der »König Ödipus«, also das frühere Stück hinterlassen hat, Antwort zu geben. Wir finden also hier den alten Ödipus, der auf sein Leben zurückblickt und sich so rechtfertigt:

Ödipus: Meine Taten sinds doch nicht: die Taten sind | ja mehr von mir erlitten als verübt (…) | Und doch: wie wär ich böse von Natur, | da ich Erlittenes vergalt? Und hätt ich es | bewußt getan, so ward ich darum doch nicht schlecht. | Nun wußt ich nichts davon und kam wohin ich kam. (Vers 266 ff.)

Einmal der Punkt: ich wusste von alledem nichts; zum anderen der Punkt: ich habe in Notwehr gehandelt. Das sind zwei Argumente, die der alte Ödipus anführt, um zu begründen, dass er sich subjektiv nicht mehr als schuldig empfindet. Es ist also die im Grunde ganz moderne Trennung von subjektiver und objektiver Schuld, von etwas, das ich wissentlich, mit Vorsatz getan habe, und etwas, das ich getan habe, ohne dass ich davon wusste, oder eben gegebenenfalls in Notwehr, die er hier geltend macht. Und wenn ich mich in diesem Sinne als nicht schuldig empfinde, dann hätte ich auch in dem anderen Stück anders gehandelt, das eben ganz und gar von der Dynamik dieses unbewussten Schuldbewusstseins bestimmt ist.

Dass es darum geht, die Angst in den Griff zu bekommen, die Angst als das eigentliche Problem der Aufklärung – nicht Religion und Familie, sondern die Angst, die auftritt, wenn ich mich von diesen Autoritäten distanziere – beherrschen zu lernen, zeigt auch eine zweite Textstelle, diesmal aus der letzen großen Szene des »König Ödipus«, nämlich an der Szene, an der Ödipus geblendet vor dem Publikum steht. Er sagt dort:

Ödipus: Da ich solch Schandmal als das meine aufgedeckt, | vermöcht ichs, mit geraden Augen sie [die Stadt] zu sehn? | Unmöglich! Sondern gäb es für die Quelle des | Gehörs durchs Ohr ein Stauwehr, hielt ich nicht zurück, | ganz abzuschließen meinen jammervollen Leib, | damit er blind und auch nichts hörend sei; denn süß | ists, wenn sich unser Denken frei vom Üblem hält. (Vers 1384 ff.)

Man kann das natürlich rein als Selbstbetrafung interpretieren: dass sich Ödipus von der Welt, in der er so viel Unheil angerichtet hat, zurückziehen will. Man kann es auch, wie es Klaus Heinrich und Heiner Müller getan haben – als den Versuch einer quasi philosophischen Ermächtigung des Geistes lesen, der auf empirische Erkenntnis verzichtet. Man kann es aber auch (und das wäre mein Vorschlag) so lesen, dass Ödipus hier sagt: Wir müssen den Blick nach innen richten, um wahre Aufklärer zu sein. Es genügt nicht, sich mit den äußeren Gewalten, dem Orakel, der Familie, dem Königshaus anzulegen und den Kampf dort gegen sie aufzunehmen, sondern wir müssen in uns ansetzen, wir müssen in uns schauen, und nur wenn wir das tun und mit unserer fortbestehenden Angst vor den Ursprungsmächten umzugehen lernen, kann die Aufklärung gelingen.



IV.


Das wäre als die große Handlungs- und Geschehensalternative, die nach meiner Überzeugung dem »König Ödipus« zugrundeliegt und es zu einer authentischen Tragödie qualifiziert. Ich will nun noch etwas zu Seneca sagen und möchte Sie dafür noch einen Moment um Geduld bitten.

Senecas Trauerspiel von Ödipus ist in einem ganz anderen Geist gehalten. Der geschichtliche Konflikt, der im »Ödipus« des Sophokles so deutlich erkennbar wird, also der Konflikt zwischen einer vorzeitlichen mythischen Ordnung und einer Gesellschaft, die anfängt, sich von ihr zu distanzieren, fällt völlig weg und spielt keine Rolle. Geschichte ist abwesend in diesem Stück. Das, was Ödipus getan hat – seinen Vater zu töten und seine Mutter zu heiraten -, erscheint als eine Perversion der unwandelbaren Naturordnung, als ein Frevel gegen ein ewiges Gesetz der Natur, das verhängt ist und der dramatische Prozess besteht in nicht anderem als zyklisch diese Ordnung der Natur wieder zu reparieren und wiederherzustellen. Das äußert sich in dem Drama so, dass Ödipus, anders als bei Sophokles, überhaupt nicht mehr als ein ambivalenter Charakter erscheint. Er ist gar nicht zerrissen zwischen Rebellion und Angst, sondern er hat nur Angst – Angst davor, dass das Orakel, dass ihm prophezeiht worden ist, eintreten könnte oder bereits eingetreten ist. Und so bezieht er denn in einer pathologischen Prolepse die Pest am Anfang, direkt auf sich und sein Schicksal.

Ödipus: Schon setzt das Schicksal etwas gegen mich in Gang | Was sonst denn soll ich denken, da doch diese Pest,| Die weit und breit verheert, dem Kadmosvolke feindlich, | Nur mich verschont? Für welches Leid bin ich bewahrt? | Im Sturz der Stadt, in den von immer neuen Tränen | Beweinten Leichenzügen, bei den Volkes Sterben | Da steht ich unversehrt – ganz klar Apolls Beklagter. | Ja konntest du erwarten, daß für solche Frevel | Noch ein gesundes Reich verliehen würde? | Der Himmel bringt durch mich Verderben! (Vers 28 ff.)

Das Gespenstische dieser Stelle liegt darin, dass Ödipus, obwohl er ja seines Wissens die Taten, die ihm unterstellt werden, noch gar nicht begangen hat, bereits so tut, als wären sie geschehen. »Daß für solche Frevel noch ein gesundes Reich verliehen würde« - die Kausalität wird umgekehrt, der Fluß fließt rückwärts, die Zukunft ist der Ursprung der Vergangenheit. Aus seiner Perspektive wird er mit der Pest bestraft für Taten, die er noch gar nicht begangen hat, die er aber ganz sicher begehen wird und die deswegen so zu nehmen sind, als wären sie passiert. Die Zeit wird ausgestrichen aus dem dramatischen Prozess. Diese Ausstreichung der Zeit, dass also letztlich am Ende es um nicht anderes geht als darum, den Ursprungszustand, die beschädigte Naturordnung unbeschädigt wiederherzustellen – darauf läuft dieses ganze Stück immer wieder hinaus. Es gibt keine Geschichte, es gibt keine Zeit, es gibt keine Handlungsalternativen.

Das will ich Ihnen noch an einer anderen Stelle vorführen – einmal an der Passage, die Seneca anstelle des Streites zwischen Ödipus und Teiresias gesetzt hat. Hier findet bei Seneca ein Opfer auf der Bühne statt. Teiresias erscheint, begleitet von seiner Assistentin Manto; es wird ein Ochse geopfert; es gibt eine Eingeweideschau, wie das in der römischen Kultpraxis üblich war, und nun erklärt Manto dem Teiresias, was sie in diesen Eingeweiden sieht:

Manto: Krankhaft zersetzt hängt schlaff das Herz, liegt tief verborgen | blau sind die Adern und ein großer Teil | der Eingeweide fehlt; vergehend schäumt die Leber | von schwarzer Galle (…). | Die Ordnung ist verwirrt, nichts findet sich | an seiner Stelle, sondern alles ist verkehrt.| Die Lunge, keinen Atem fassend, liegt | mit Blut sich füllend, auf der rechten Seite; | das Herz befindet sich nicht links, nicht hüllen Häute | in weicher Windung ihre fetten Falten | um die Gedärme; die Natur | hat sich verdreht (natura versa est). (Vers 356 ff.)

Das ist der entscheidende Satz: Die Natur hat sich verdreht – und Seneca bietet einige rhetorische Mittel auf, um diese Perversion der Natur zu demonstrieren. Nach dem, was er hier schildert, könnte dieser Ochse gar nicht lebensfähig sein, weil alle seine Organe an der falschen Stelle sitzen und diese Übertreibung wird bewusst in Kauf genommen, um zu zeigen: Das, was Ödipus gemacht hat, ist eine so ungeheuerliche Verletzung der Naturordnung, dass sie nur die die allergrößte anatomische Unordnung wiedergegeben werden kann.

Die Frage ist: Was ist für eine Lösung empfiehlt Seneca angesichts dieser Lage der Dinge? Kann man überhaupt etwas tun? Wie soll man sich in einer Welt, in der das Schicksal absolut regiert und der Mensch nichts dazu beitragen kann, daran etwas zu ändern, verhalten? Es sind meines Erachtens zwei Empfehlungen, die er hier ausspricht. Die eine bsteht darin, Maß zu halten; also für all diejenigen, die noch nicht in die Fänge des Schicksals geraten sind, ist es am besten, nichts zu tun – oder so wenig wie möglich -, sich klein zu machen, bürgerlich zu leben, nicht aufzubegehren, auf keinen Fall Natur und Schicksal, die sich auch in der Staatsordnung verkörpern, herauszufordern. Der Chor, der diese Leute, die noch vom Schicksal unerfasst sind, vertritt, formuliert das so:

Chor: Dürft nach Wunsch ich gestalten mir, | mein Geschick: leichtem Südwind nur | setzte ich meine Segel aus, | daß nicht bedrängt von schwerem Sturm, | meine Rahen erzitterten; | sanfte Brise mit mildem Hauch, | die die Flanke nicht kippen läßt, | führe furchtlos mein Schiff; | sicher leite das Leben mich, | laufe auf mittlerer Bahn nur ab. (…) | Alles was übersteigt das Maß, | steht auf schwankendem Fundament. (Vers 882 ff.)

Die andere Möglichkeit steckt in dem, was Ödipus am Schluss des Stücks tut. Wer, wie er, die Ordnung der Natur verletzt hat, kann dies nur wiedergutmachen, indem er an sich selbst gewaltsam die Ordnung der Natur wiederherstellt. In dieser Selbstbestrafung liegt aber anders als bei Sophokles nicht noch ein Akt der Rebellion, der Neuformulierung des Verhältnisses von Mythos und Aufklärung, sondern nichts weiter als die Identifikation mit der schicksalshaft strafenden Gewalt. Also: Wenn ich schon gar nichts tun kann, dann nehme ich die Strafe wenigstens selber in die Hand; dann blende ich mich selbst, dann verstümmele ich mich selbst und meine heroische Stärke besteht eben darin, dass mir das alles nichts ausmacht, dass ich das alles schmerzlos ertrage; dass ich also dem stoischen Lebensideal folgend alles das, was mich physisch mit dieser Wirklichkeit verbindet, ignoriere. Um das zu demonstrieren, hat Seneca die Szene, in der Ödipus sich blendet, in im Vergleich zu Sophokles geradezu splatterhaften Art gesteigert. Der Bote berichtet von Ödipus:

Bote: Er wühlt mit krummen Händen gierig in den Augen, | dreht beide ganz mit tiefster Wurzel ausgerißnen | Augäpfel dann heraus; im Leeren stakt die Hand, | tief mit den Nägeln eingekrallt zerfleischt sie | die hohle Bucht, den leeren Schoß der Augen (…). | Was an den schlecht herausgebohrten Augen | noch hängt, das reißt er ab … (Vers 965 ff.)

Sie spüren, glaube ich, diese Mischung aus Lust und Ekel, mit der er beschreibt, wie das letzte Fädchen, das ihn noch mit den Augäpfeln verbindet, durchreißt – das würde man vielleicht bei so einem alten Text gar nicht vermuten -: er will genau diesen Ekel, diesen Abscheu, die Schmerzempfindung des Zuschauers bis zu dem Punkt steigern, an dem er sagen kann: Ja, das alles macht Ödipus selber, er triumphiert dadurch über das Schicksal, dass er sich damit identifiziert.



V.


Sie erinnern sich an das, was ich vorhin über Erec Robertson Dodds und seiner Klausur erzählt habe. Wenn die Studenten, die diese Klausur geschrieben haben, zum allergrößten Teil formuliert haben, im »Ödipus« des Sophokles gehe es darum, dass das göttliche Schicksal unabwendbar sein; dass man nichts dagegen machen könne -: was machen sie da eigentlich? Eigentlich verwandelt sie die Tragödie in ein Trauerspiel und es ist eben diese Verwandlung der Tragödie in ein Trauerspiel, von der auch die philosophische Theorie der Tragödie, die ich vorhin kurz berührt habe, weitgehend beherrscht ist. Die Ausnahmen – im Grunde sind es die einzigen – sind Hölderlin (den ich vorhin kurz zitiert habe), Benjamin und mit Abstrichen Hegel. Bei allen anderen vollzieht sich, wenn man das gattungstheoretisch formulieren will, eben jene Transformation ins Trauerspiel. Darüber, warum dies mit einer Insistenz geschieht, die die klügsten Philosophen mit den Studenten verbindet, von denen Dodds erzählt, lässt sich wohl nur spekulieren. Es scheint mir aber, dass immer dann, wenn die Realität so beschaffen zu sein scheint, dass man mit dem eigenen Handeln nichts dagegen ausrichten und nichts verändern kann – so war es im Rom Neros zu Senecas Zeit, im deutschen Barock, das unter dem traumatisierenden Einfluss des dreißigjährigen Krieges stand, und so ist es wohl auch heute, in einer Situation, in der die einzige Freiheit, die uns gelassen wird, die Freiheit des unbegrenzten Konsums ist, in der aber die Menschen sich in allen Situation, die für ihr Leben entscheidend sind, einer übermächtigen Realität preisgegeben sehen – es zu dieser systematischen Verkennung des Wesens der Tragödie kommt, über das ich sie in dieser Vorlesung ein wenig aufgeklärt zu haben hoffe.

Dazu habe ich versucht, Ihnen die beiden Formen von Trauerspiel und Tragödie theoretisch und an einem Beispiel zu entwickeln und möchte Sie nun mit einem Schema entlassen, in dem ich versucht habe, diese beiden Typen über die europäische Geschichte des Dramas zu verteilen, also wichtige Protagonisten zu nennen, bei denen ich sagen würde: Der gehört mehr zum Typus Trauerspiel, der gehört mehr zum Typus Tragödie.


Abb: Trauerspiel und Tragödie in historischer Perspektive


Wir haben also in der Mitte den Zeitpfeil, der in der griechischen Antike beginnt und im späten 20. Jahrhundert aufhört; wir haben oben den Typus Trauerspiel und unten den Typus Tragödie. Ich habe die dramatischen Autoren in schwarzer Schrift darauf verteilt und in roter Schrift die maßgeblichen Theoretiker. Die blauen Pfeile bezeichnen die neuralgischen Punkte im Verlauf dieser geschichtlicher Entwicklung, an denen Theorie und Praxis am weitesten auseinanderweisen: einerseits der Gegensatz der griechischen Tragödienschriftsteller mit der Theorie des Aristoteles in der »Poetik«; andererseits der Gegensatz zwischen den französischen Klassikern Racine und Corneille und dem bedeutendsten Theatertheoretikers dieser Epoche, Francois Hédelin Abbé d‹Aubignac; und zum dritten, vor allem weil es sich um eine wirkliche Kuriosität handelt, der Widerspruch zwischen Schillers Tragödientheorie, die de facto eine stoisch imprägnierte Theorie des Trauerspiels ist und dem, was er in seinen Dramen und da insbesondere im »Wallenstein« macht.

Der große Unbekannte dieses Schemas ist Shakespeare. Ich wollte Ihnen nicht verheimlichen, dass ich in diesem Punkt immer unsicherer geworden bin, welchem Typus sich seine Stücke eigentlich zuordnen lassen. Mir scheint dabei immer mehr, dass sich Tragödie und Trauerspiel in seinen Stücken und da insbesondere im »Hamlet« durchdringen. Der »Hamlet«, so könnte man vielleicht sagen, beginnt als Tragödie und endet als Trauerspiel. Aber es ist für mich eine offene Frage, mit der ich schließen will, indem ich Ihnen zugleich für ihre Aufmerksamkeit danke.









Reaktionen von Lüneburger Studentinnen auf die Vorlesung