Wolfram Ette


Hamlet | Maschine

Ästhetische Transzendenz bei Shakespeare

und Heiner Müller



I.


Ich begrüße Sie ganz herzlich und bedanke mich sehr für die Einladung und die Vorstellung. Ich habe mich über die Einladung besonders gefreut, weil sie eben dem Buch gilt, in das ich so viele Mühe gesteckt habe.

Ich habe mir überlegt, den Vortrag heute abend in zwei Teile zu gliedern. Einmal möchte ich Ihnen wenigstens in Umrissen erläutern, was es mit dem Titel meines Buchs, der »Kritik der Tragödie« auf sich hat, was dieser Titel also genau bedeutet. Und das möchte ich dann an 2 Tragödien erläutern, die in gewisser Weise zu Grenzfällen der Gattung zählen, bei denen man sich also fragen muss, ob es sich übernaupt noch um Tragödien handelt – nämlich um den »Hamlet« von Shakespeare und »Die Hamletmaschine« von Heiner Müller.

Die Wendung »Kritik der Tragödie« ist doppeldeutig und sie ist auch so gemeint. Die Doppeldeutigkeit dieses Titels liegt vor allem in der Konstruktion des Genitivs beschlossen. Ganz ähnlich also wie in Kants »Kritik der reinen Vernunft« oder in Benjamins »Kritik der Gewalt« ist auf der der einen Seite – im Sinne eines genitivus objectivusgemeint, dass hier eine Kritik an der Tragödie, am Tragischen geführt wird. Auf der anderen Seite ist gemeint, dass hier eine Kritik geführt wird, die von der Tragödie ausgeht, in der also im Sinne eines genitivus subjectivusdie Tragödie Subjekt der Kritik ist. Die ganze Idee der Arbeit besteht eigentlich darin, dass man diese beiden Bedeutungen des Genitivs gewissermaßen zusammenfassen und addieren muss, so dass sich also ergibt: Die Kritik der Tragödie ist eine Kritik, die von der Tragödie selbst geführt wird, mithin eine Selbstkritik der Tragödie. Die Grundthese des Buchs lautet eigentlich, dass alle Tragödien, die mit Recht so genannt werden – das kann man nicht ohne weiteres von allen ernsten Dramen behaupten, die es in der europäischen Literatur gibt – diesen Prozess einer Selbstkritik der Tragödie durchlaufen; also einen Prozess, den man mit einem anderen Begriff, der aus dem Umfeld der Kritischen Theorie stammt, immanente Kritik nennen kann. In der Selbstkritik der Tragödie wird das Tragische nicht so kritisiert, dass ein von außen kommender Maßstab an es angelegt wird, sondern gewissermaßen von Innen heraus: durchs akribische Sich-Versenken ins Detail und dadurch, dass in der Sache, also im tragischen Prozess die Widersprüche aufgedeckt werden, die ihn ausmachen, und die es zugleich erlauben, ihn zu kritisieren. Ein Vorläufer dieses Begriffs der immanenten Kritik ist eben das, was Marx von Hegel gelernt hat und was ja auch als Inbegriff seiner eigenen Methode gilt. Er nennt das in einem Brief an Feuerbach die Einheit von Darstellung und Kritik. Die Kritik also, die Marx – und er lehnt sich da tatsächlich ganz eng an das Hegelsche Verfahren in der »Phänomenologie des Geistes« an, besteht eben nicht darin, die bürgerliche Gesellschaft – den Kapitalismus – mit einem von außen kommenden Maßstab zu messen, ihn beispielsweise moralisch zu kritisieren; das tut Marx zwar auch – es gibt ja diesen vielen Partien im ›Kapital‹, in denen er über das Unrecht, die Vertiefung des Klassengegensatzes, die Kinderarbeit und diese Dinge berichtet; – dennoch sind diese ohne Zweifel Empörung auslösenden Partien nicht das Zentrum der Kritik. Das Zentrum der Kritik liegt vielmehr in der Darstellung, das heißt in der Beschreibung der inneren Verhältnisse, aus denen sich der Kapitalismus zusammensetzt seine Widersprüche, das heißt seine innere Instabilität an den Tag zu bringen. Und in diesem Sinne sind auch die Tragödie eine immanente Kritik ihrer selbst – eine Kritik, die sich in der Darstellung der tragischen Prozesse, ohne dass etwas von außen hinzukäme, entfaltet.

Die Frage ist, was das konkret bedeutet. Bisher habe ich nur formal argumentiert; jetzt muss man sich fragen: Was ist den der Gegenstand, der konkrete Gegenstand dieser tragischen Selbstkritik. Tragödien handeln von Prozessen schicsalshafter Selbstzerstörung. Das heißt, sie handeln davon, wie ein Mensch oder ein Kollektiv mit scheinbarer Notwendigkeit und Unabwendbarkeit Unglück über sich bringt. Schicksal – das heißt in irgendeiner Form immer, dass der handelnde Mensch sich eine Übermacht gegenübersieht, gegen die er nichts vermag, die sein Handeln zu steuern und in der Regel in den Untergang zu führen scheint.

Genau an diesem Schein, also an der Scheinbarkeit dieser Übermacht des Schicksals setzt die tragische Selbstkritik an. Dabei ist es jetzt nicht so, dass die Vorstellung einer Schicksalsmacht, die durch unser Handeln ausgelöst wird und sich gegen unsere Intentionen durchsetzt, den Tragödien ganz fremd wäre. Ganz im Gegenteil: aber sie versuchen, diese von unserer Autonomie ausgelöste und durch unsere Autonomie hindurchwirkende Macht so exakt wie möglich zu analysieren. Tragödie sind vor allem Handlungsanalysen und was die griechischen Tragödien betrifft, Handlungsanalysen von einer Genauigkeit und Präzision, für die es in der Literatur vorher überhaupt kein Beispiel gibt. Die Ziel dieser Handlungsanalyse ist es eben, diejenigen Punkte herauszuisolieren, bis zu denen die Protagonisten noch über ihr Handeln und seine Konsequenzen verfügen, jenseits derer aber das Reich des Schicksals beginnt es es sich ins Unberechenbare und Unvorhersehbare wandelt. Das heißt, die Tragödien ergeben sich nicht einfach der Thesis eines übermächtiges Schicksals, dem der Mensch sich zu beugen habe, sondern versuchen in der Darstellung der menschlichen Handlung zu begründen, warum das Schicksal in Erscheinung tritt – und in diesem Sinne ist Kritik der Tragödie immer Kritik am Schicksal. Diese Kritik am Schicksal beruht im Kern darauf, dass es nicht an sich besteht, etwa im Sinne eines unerforschlichen Ratschlusses göttlicher Mächte, sondern auf einer sich selbst verkennenden, sich selbst missverstehenden und aus diesem Grunde sich selbst übersteigernden menschlichen Autonomie beruht – auf einer Autonomie also, die in Wahrheit gar keine ist, weil sie sich selber nicht reflektiert und ihre eigenen Grundlagen nicht durchschaut. Der Schein des Schicksals basiert auf einer bloß scheinbaren Autonomie, die, weil sie nicht wirklich begründet ist, in ihr eigenes Gegenteil umschlägt. Dieser Schein desnSchicksals lässt sich nicht restlos auflösen – es gibt keine vollendete Autonomie; kein Handeln hat alles unter Kontrolle – aber er lässt sich massiv reduzieren, ›aufklären‹ und minimieren: Seine Macht lässt sich verringern. Und diese Machtreduzierung des durch die Handlung ausgelösten Schicksals ist eben das Ziel der tragischen Selbstkritik.



II.

Nun hört sich das wahrscheinlich alles ziemlich abstrakt an und ich will, bevor ich ich den zu denn Stücken übergehen, die den eigentlichen Gegenstand meines Vortrags bilden, dies an einigen Gegenständen aus der Antike ganz kurz und skizzenhaft belegen.

Das erste Beispiel ist der »König Ödipus« des Sophokles. Dieses Stück handelt keines wegs davon, wie seit Jahrhunderten nachgebetet wird, dass der Mensch der Macht der Götter ohnmächtig ausgeliefert ist. In Wahrheit geht es in diesem Stück um etwas ganz anderes, sondern, wenn Sie so wollen, um die Psychoanalyse eines Aufklärers. Ödipus ist Aufklärer; er rebelliert die Macht der Religion und vermittelt auch die Macht der Familie, die sich darin bekundet, dass er seinen Vater tötet, damit sein eigener Vater wird und seine Mutter heiratet. Ödipus wird in einer ganz extremen Form kein eigenes Leben zugestanden. Er tötet seinen Vater – eine extreme Form von Rebellion – gleichzeitig kippt das dann ins Gegenteil um; er verschmilzt mit der Funktion seines Vaters, wird sein eigener Vater, nimmt die Mutter zur Ehefrau, ist sein eigener Vater. Dagegen lehnt er sich auf, er will sein eigenes Leben. Aber es ist eine Rebellion aus Angst und der Ausdruck dieser Angst ist eben, dass Ödipus vor dem Orakel wegläuft, das ihm sein zukünftiges Schicksal prognostiziert. Sie werden sich erinnern: Ödipus war in seiner Heimatstadt Korinth von einem Betrunkenen vorgeworfen worden, dass seine Eltern Polybos und Merope nicht seine leiblichen Eltern seien. Er begibt sich daraufhin zum Orakel in Delphi, das Orakel aber gibt ihm auf diese Frage – wer denn seine wahren Eltern seien – gar keine Antwort, sondern sagt ihm lediglich: Du wirst deinen Vater töten und deine Mutter heiraten. Ödipus macht nun zwei Dinge nicht, die er hätte tun können. Erstens hätte er auf der Beantwortung seiner Frage besteht können. Zweitens unterlässt er es, nachdem er den Orakelspruch empfangen hat, sich mit denen, die er für seine Eltern hält, zu konfrontieren, ihnen von dem Orakel zu erzählen und sie zu fragen, was sie denn davon halten würden. In Windeseile hätte sich das ganze Problem in Luft aufgelöst. Stattdessen läuft er weg, er flieht vor Korinth, gerät nach Theben und da ereignet sich diese Geschichte, die sie wahrscheinlich alle kennen: Er erschlägt seinen Vater, besiegt die Sphinx und gerät auf den Thron. Das Drama, das Sophokles geschrieben hat, schildert dann den allerletzten Akt dieser ganzen Geschichte, durch die Ödipus seine eigene Identität entdeckt.

Ödipus läuft weg und die Angst, deren mythologischer Ausdruck dieses Weglaufen vor dem Orakel und vor dem in dem Orakel sich manifestierenden Ursprungsmächten ist, verfolgt ihn im ganzen Stück. Angst und Schuldbewusstsein treiben den tragischen Prozess voran. Es ist – man müsste das jetzt an einer Einzelanalyse zeigen, die ich hier nicht machen kann – ganz entscheidend sein Schuldbewusstsein, das ihn zur Aufdeckung seiner eigenen Identität zwingt und das ihn dazu bringt, seine politische Verantwortung zu vergessen und ihn schließlich in den Untergang treibt, der von Sophokles dargestellt wird. Nervös pendelt Ödipus im Drama zwischen einem infantilen Aufbegehren gegen die die religiösen Schicksalsgewalten und einer kindischen Unterwerfung unter sie hin und her. Darin, in dieser Angst, in dieser Angst, in dieser Instabilität, in diesem Hin- und Herpendeln zwischen Rebellion und Unterwerfung, dokumentiert sich eigentlich die Gewalt der Ursprungsmächte, gegen die er aufbegehrt – viel eindrucksvoller als und viel stärker als bei jemandem, der sich ihnen, ohne groß zu fragen, unterwirft. Und so handelt den der »König Ödipus« vor allem davon, wie jemand, der von Schuldbewusstsein besessen, jegliche politische Verantwortung, also seine eigene gesellschaftliche Funktion vergisst und sich selbst zerstört. Keineswegs empfiehlt dieses Stück, sich den Göttern zu unterwerfen, sondern es fragt danach, ob es eine Aufklärung geben kann, die von den Ursprungsmächten ohne Angst und ohne Schuldbewusstsein befreit, die sie in die Selbstzerstörung treiben.

Im »König Ödipus« verhält es sich so, dass man im Grunde bis an den Anfang der Geschichte, also bis zum Orakel, das Ödipus empfängt, zurückgehen muss, um den Punkt zu finden, an dem der tragische Prozess anders hätte verlaufen können, an dem das Geschehen anders hätte ausgehen können, als es tatsächlich ausgegangen ist. – In der »Antigone«, meinem zweiten Beispiel, ist das ganz anders. Hier wäre es bis ganz kurz vor Schluss noch möglich gewesen, das Geschehen zu wenden und den unglücklichen Ausgang zu verhindern. Die Szene, die ich im Sinn habe, ist ein kurzes Zwiegespräch zwischen Kreon und dem Chor. Diesem Zweigespräch ist eine Auseinandersetzung zwischen Kreon und dem Seher Tiresias vorausgegangen. Tiresias hatte ihn davon zu überzeugen versucht, dass seine Tat – also dem Polyneikes die Bestattung zu verweigern – ein religiöser Frevel sei und dass es darüber hinaus politisch verantwortungslos sei. Damit hat er schließlich auch Erfolg. Kreon sieht ein, dass er verkehrt gehandelt hat und er fragt nun den Chor, was er tun solle. Der Chor rät ihm das Nächstliegende: ›Geh zum Grab, hol Antigone (die dort lebendig begraben liegt), heraus und bestatte dann den Polyneikes.‹ Das tut Kreon auch, jedoch mit einer winzigen Differenz, die entscheidend ist. Er vertauscht nämlich die Reihenfolge der Handlungen. Das heißt: er bestattet zuerst den Polyneikes und geht dann zum Grab. Deswegen verliert er genau die Zeit, in der Antigone sich erhängt, in der Haimon dazukommt, der, als Kreon zum Grab kommt, seinen Vater zu töten versucht und sich, als dies misslingt, in sein eigenes Schwert stürzt. Um das Maß am Ende voll zu machen, nimmt sich dann noch Jokaste, die Frau des Kreon, das Leben. Also: dieser ganze blutige Schluss hängt an dieser Winzigkeit: an der Umstellung der vom Chor empfohlenen Handlungen. So ähnlich trägt es sich ja dann auch bei »Romeo und Julia«, wo der unglückliche Ausgang des Geschehens einzig und allein an einer Verspätung, also der reinen Zeit liegt.

Man muss sich fragen: Was bedeutet diese ganz unscheinbare Gabelung der Handlung, an der etwas hätte anders laufen können? Man kann dem erst einmal die schlichte Empfehlung entnehmen, dass Kreon sich an dieser Stelle, an der er es eigentlich schon hätte besser wissen müssen, der Weisheit des Kollektivs hätte beugen müssen. Es ist im Grunde gar nicht so wichtig, warum ihm der Chor das in dieser Reihenfolge empfohlen hatte – es geht wahrscheinlich einfach auf den Gemeinplatz zurück, dass man sich erst um die Lebenden und dann um die Toten sorgen sollte –; entscheidend ist, dass er ihm da in einem Wissen um das zu Tuende voraus ist, und dass Kreon noch in diesem letzten Punkt seinen Eigenwillen gegen das Kollektiv durchsetzen will und dadurch das unglücklich Ende der Tragödie herbeiführt.

Dadurch fällt auch ein genaueres Licht auf Kreon. Auch Kreon ist (wie Ödipus) ein Aufklärer. Sein Versuch, das Reich der Politik auf den Tod auszudehnen, ist zunächst einmal nicht absolut verwerflich. Wenn Sie an die Diskussion denken – das ist nun schon sehr lange her –, die entbrannte, als Reagan Deutschland einen Besuch abstattete und in Bitburg zusammen mit Kohl die Gräber ehemaliger SS-Soldaten besuchen sollte. Haben die Toten immer und in jedem Fall ein Recht auf Gedenken, egal, was sie politisch getan haben? Oder denken Sie an die Debatte um das Begräbnis von Schleyer und dann später der RAF-Terroristen der ersten Generation – das hat ja Kluge in seinem Film »Deutschland im Herbst« ganz auf dieses Motiv gestellt –, wo wieder der Zugriff der Politik (sei er der staatlichen Politik, sei es der linken Gegenpolitik) auf den Tod stattfindet und man nicht ohne weiteres sagen kann, dass es immer schlecht ist, wenn der Tod zum Gegenstand der Politik gemacht wird. Zunächst einmal macht Kreon nichts anderes; entscheidend ist aber, dass er dies – und das zeigt eben unter anderem diese kleine Szene mit dem Chor – aus individuellem Ehrgeiz tut und nicht aus politischer Verantwortung für die Stadt. Die Aufklärung, die also hier in der Kritik steht, ist eine Aufklärung, die auf individuellem Ehrgeiz und Machtstreben beruht und nicht wirklich zum Ziel hat, sich von den religiösen Mächten, den Ursprungsmächten, den Mächten der Familie zu distanzieren. Umgekehrt wird nahegelegt, dass der Chor, der ganz anders als es bei Hegel dargestellt wird, überhaupt nicht rückschrittlich ist, diejenige Instanz sein könnte, die in der Lage wäre, das Alte und das Neue so in sich zu balancieren und die Verantwortung gegenüber dem Einzelnen und gegenüber der Gemeinschaft so miteinander zu verbinden, dass eine Aufklärung möglich wird, die nicht von persönlichem Ehrgeiz getragen wird und deswegen nicht in ihr Gegenteil umschlägt.

Das dritte Beispiel sind die »Bakchen« des Euripides: ein Stück, das davon handelt, wie eine Stadt von einer Bewegung ergriffen wird, in der Drogen, exzessive und nicht genormte Sexualität, neue Formen der Gemeinschaft und des Umgang mit der Natur auf der Tagesordnung stehen; ein summer of love sozusagen, der einer rationalistisch übersteigerten Aufklärung im Namen des Gottes Dionysos die Stirn bietet und immer größere Kreise zieht. Pentheus, der König der Stadt, steht diesem Treiben hilflos gegenüber und versucht, es mit aller Gewalt zu verhindern. Gleichzeitig – das zeigt ja der Verlauf des Stücks, in dem Pentheus sich als Frau verkleidet (angestiftet von Dionysos) und in die dionysische Kultgemeinde einzudringen versucht, die ihn entdeckt und auf das Grausamste bestraft – empfindet er eine übergroße Lust an dem, was er ablehnt. Die Tragödie des Pentheus besteht darin, dass er mit der Triebsphäre, die er verurteilt und abwehrt, zugleich verschmelzen und einswerden möchte und dass ihm dies in der Paradoxie des Zerreißungstodes auch gelingt. »Die Bakchen« sind also ein Stück über Doppelmoral, und sie sind noch mehr: Sie sind ein Stück über einen Typ von Aufklärung, der sich mit aller Macht versucht über Körper, Sexualität und Gefühle hinwegzusetzen und ihnen deswegen um so gewisser verfällt –: ein Stück über Verdrängung und über die unausweichliche Wiederkehr des Verdrängten, an dem das Bedürfnis stärker denn je hängt, so dass es schließlich zum Kollaps des gesamten Aufklärungs- und Verdrängungssystems kommt. Pentheus ist, wenn Sie so wollen, eine frühe Fassung von Professor Unrat.



III.

In allen drei Beispielen, die ich Ihnen nannte, fiel das Stichwort der ›Aufklärung‹. Die Selbstkritik der Tragödie, also die Kritik am Schicksal – das ist die Kritik an einer falschen oder falsch verstandenen Aufklärung, die, anstatt den Menschen vom Schicksal zu befreien, es in Wahrheit heraufbeschwört und seine Macht verstärkt. Aufklärung aus Angst»Ödipus«; Aufklärung aus Ehrgeiz – »Antigone«; Aufklärung aus der Verdrängung der eigenen Triebsphäre – »Die Bakchen«: das sind Spielarten dieser Aufklärungskritik, der sich vermutlich, wenn man andere Tragödien hinzuzieht, noch andere hinzugesellen ließen, und vor deren Hintergrund sich schattenhaft und via negationis die Konturen einer anderen, besseren Aufklärung abzeichnen.

Das heißt: Die Tragödie sind im Grunde frühe Fallanalysen der Aufklärungskritik, die Adorno und Horkheimer in der »Dialektik der Aufklärung« führen. Sie analysieren mit einem ungeheurem phänomenologischen Reichtum den Umschlag von Aufklärung in Mythologie, das heißt ins Schicksal; sie kritisieren die falsche Aufklärung im Namen einer besseren. Und wie in der »Dialektik der Aufklärung« lässt sich diese bessere Aufklärung unter dem Titel eines Eingedenkens der Natur im Subjekt subsumieren. Das ist ja die bekannte und auch ein wenig rätselhafte Formel, die in diesem festen, manchmal etwas totalitär wirkenden geschichtsphilosophischen Gerüst der »Dialektik der Aufklärung« so etwas wie einen Ausweg möglich macht. Eingedenken der Natur im Subjekt – das bedeutet, wenn man es aus der Perspektive der antiken Tragödie, dass Aufklärung nur dann gelingen kann, wenn sie ihres eigenen Trieb- und Gefühlsuntergrunds eingedenk ist, wenn sie ihn mitreflektiert, wenn sie sich auf ihn durchsichtig macht: also Angst, Ehrgeiz, verdrängter Sehnsucht und dem, was sich aus anderen Tragödien ggf. noch mit hinzuziehen lassen könnte. denn allein in diesem trieb- und gefühlsuntergrund, nicht in äußerlichen gegebenheiten wie staat und familie bekundet sich die macht der ursprünge, gegen die die Aufklärung sich wendet.


IV.

Von dieser Vision einer richtigen Aufklärung, eines richtigen Handelns, dem es gelänge, der fatalen Dialektik von Autonomie und Schicksal zu entkommen, sind die zwei Stücke, die ich heute in den Mittelpunkt des Vortrag stellen möchte, schon sehr weit entfernt: Shakespeares »Hamlet« und Heiner Müllers »Hamletmaschine«. Im Gegensatz zur echten Tragödie, die der Aufklärung der Treue hält und in diesem Sinne immer auf einer Basis von Restoptimismus beruht, sind diese Stücke resignativ: Sie haben im Grunde den Glauben daran aufgegeben, dass man durch das Handeln irgend etwas verändern kann. Gleichzeitig halten sie aber an der Kritik der Tragödie, also am Modus der immanenten Kritik ihrer selbst fest. Sie verschieben sie jedoch auf eine andere Ebene. Das meint der Ausdruck ästhetische Transzendenz des Tragischen. Die Kritik am Tragischen wird eben nicht mehr im Namen eines anderen, bessereb Handlungsverlaufs geführt, sondern im Namen der Kunst. Das Leben bietet, summarisch gesprochen, keinen Ausweg mehr, also flüchtet sich das Drama in das Einzige, was noch bleibt: in den utopischen Gegenentwurf der Kunst. Die Kunst springt aus dem dramatischen Verlauf heraus und entwirft eine andere Welt, die unvermittelt quer zu ihr steht. Das Verfahren ist nicht mehr das der bestimmten Negation und der immamenten Kritik; die utopische Setzung kommt vielmehr von außen und bricht als ein Fremdes in den dramatischen Verlauf ein. Deswegen handelt es sich bei beiden Stücken um Grenzfälle der Gattung. Der Grund dafür ist erst einmal ein historischer. Shakespeare schreibt sein Werk zwar in in einer Epoche, in der das autonome und selbstmächtige Individuum geradezu glorifiziert wird, aber er stellt doch den pessimstischen Gegenentwurf dazu dar. Jan Kott hat einmal angesichts der Shakespearschen Tragödien und Historien vom Großen Mechanismus gesprochen, also vom Rad der Geschichte, das sich immerzu weiterdreht, ohne dass sich substanziell etwas ändert. Er hat dafür ein sehr schönes Bild gefunden; er hat nämlich gesagt, wenn man die Historien von Shakespeare alle hintereinander weg in einem Zug durchliest, dann immer einen William, es gibt immer einen Richard und es gibt immer einen Henry. Alle diese Figuren verschwimmen ineinander, wenn man dieses Leseexperiment einmal ausprobiert und man hat das Gefühl, es sind alles Marionetten, die die Treppe zur Macht empoklimmen, dabei aber schon kleiner werden und wenn sie dann heruntergefegt sind, kommt schon der nächste. Es gibt da keine grundsätzliche Veränderung. In diesem Geist erst einmal ist auch der »Hamlet« verfasst. Am Ende des Stücks ergreift ja der junge Fortinbras die Macht, der ›Starkarm‹, wie man seinen Namen wörtlich übersetzen müsste, und auf eine ganz gespenstische Weise ist es am Ende so, als wäre in diesem ganzen, über 6000 Verse langen Drama nichts gewesen, nichts passiert. Es wird ganz eigentümlich entrealisiert in dem Moment, in dem Fortinbras zur Macht greift.

»Die Hamletmaschine« überträgt die Situation des frühneuzeitlichen Intellektuellen – als solcher erscheint Hamlet ja bei Shakespeare – auf die Situation der europäischen Linken, die, gestützt auf eine Theorie – die marxistische – angetreten ist, die Welt zu verändern. Hamlet ist bei Müller das Paradigma des linken Opositionellen und kritischen Intellektuellen. Und seine Diagnose fällt ähnlich ernüchternd aus wie diejenige Shakespeares. Der Glaube an ein veränderndes Handeln, von dem die klassische Tragödie noch beseelt ist, hat sich 1978, als Müller die »Hamletmaschine verfasste, erschöpft. Und dennoch gegebn diese Stücke nicht auf. Es sind keine Trauerspiele in dem Sinne, dass sie vor der Fatalität des Schicksals und davor, dass man nichts tun kann, einfach resignieren. Aber sie setzen an die Stelle alternativer Handlungsentwürfe die utopische Transzendenz der Tragödie durch die Kunst.

Ich möchte Ihnen zunächst die Ausweglosigkeit der Situation bei Müller schildern, dann zurückgehen zu Shakespeare und es bei ihm entwickeln; dann dieses Moment der ästhetischen Transzendenz bei Shakespeare herausarbeiten; und dann am Ende, wieder zu Müller zurückgehen.

»Die Hamletmaschine« besteht aus fünf Bildern, so wie der »Hamlet« aus fünf Akten und ich möchte mich in meiner auszugsweisen Deutung, die ich hier vorlege, auf das vorletzte Bild konzentrieren. Hier nämlich pendelt die Figur des Hamlet – dies linken Intellektuellen – zwischen einer zynischen Enthaltsamkeit von jeglicher Praxis und einer einem nicht weniger zynischen Einswerden mit der politischen Macht hin und her. Wenn nämlich Handeln ebensowenig wie Nichthandeln einen Sinn hat, weil es nichts verändert, wenn es, wie Adorno gesagt hat, sowieso kein richtiges Leben im falschen gibt, dann lässt sich daraus die zynische Konsequenz ziehen, mit den Wölfen zu heulen und mit der Macht zu gehen. Das eben beschreibt Müllers Stück als das Schicksal der Linken in Deutschland: ein ohnmächtiges und passives Wüten gegen sich selbst und die eigene Machtlosigkeit, das an irgendeiner Stelle dann umschlägt in den Zynismus der Macht. Dieser Prozess hat dann im vierten Bild der »Hamletmaschine« drei Stationen, die ich Ihnen an ein paar kurzen Zitaten vorführen möchte. – Zunächst die Position des von der Welt angeekelten Kulturkritikers, der theoretisch über dne Dingen steht und selbst was Besseres zu sein glaubt.

HAMLETDARSTELLER: Fernsehn Der tägliche Ekel Ekel | Am präparierten Geschwätz am verordneten Frohsinn | Wie schreibt man GEMÜTLICHKEIT | Unsern täglichen Mord gib uns heute | Denn Dein ist das Nichts Ekel | An den Lügen die geglaubt werden | Von den Lügnern und niemanden sonst Ekel | An den Visagen der Macher gekerbt | Vom Kampf um die Posten Stimmen Banknoten …

In diesem Stil geht das dann so weiter. Es schlägt der dann in der nächsten Phase um in den geradzu physischen Selbstekel des linken Inellektuellen, der aus der Ohnmacht in die Selbstzerstörung flüchtet – sei es als Einzelwesen, sei es als Metapher einer sich selbst zerfleischenden Linken, die sich nur noch mit sich selbst beschäftigt, weil ihr jeglicher Einfluss auf die Wirklichkeit verloren gegangen ist.

HAMLETDARSTELLER

Ich will nicht mehr essen trinken atmen eine Frau lieben einen Mann ein Kind ein Tier. Ich will nicht mehr sterben. Ich will nicht mehr töten.

(Zerreißung der Fotografie des Autors.)

Ich breche mein versiegeltes Fleisch auf. Ich will in meinen Adern wohnen, im Mark meiner Knochen, im Labyrinth meines Schädels. Ich ziehe mich zurück in meine Eingeweide. Ich nehme Platz in meiner Scheiße, meinem Blut. Irgendwo werden Leiber zerbrochen, damit ich wohnen kann in meiner Scheiße.

Von hier aus zu dieser auf der Spitze zwischen Selbstverachtung und Zynismus hin- und herkippenden Selbstekel des linken Intellektuellen ist es dann nicht mehr weit bis zu dem Punkt, an dem er, der Ideale mehr hat, sie verrät und mit der Macht gegen, die er sich immer gewendet hat, eins wird. Den Text, den ich Ihnen nun zeigen werden, spricht nicht mehr der Hamletdarsteller, es handelt sich vielmehr um ein frühes Gedicht Müllers, das der Autor als eine objektive, epische Stimme, die von außen kommt, in das Geschehen eingefügt hat. Das Gedicht endet so:

UND KNAPP VORM DRITTEN HAHNENSCHREI ZERREISST | EIN NARR DAS SCHELLENKLEID DES PHILOSOPHEN | KRIECHT EIN BELEIBTER BLUTHUND IN DEN PANZER

(Tritt in die Rüstung, spaltet mit dem Beil die Köpfe von Marx Lenin Mao. Schnee. Eiszeit.)

Ich kommentiere nur kurz einige Stellen, die sich vielleicht nicht unmittelbar von selbst erklären.

Der dritte Hahnenschrei, das bringt natürlich das Motiv von Petrus’ Verrat und Selbstverrat ins Spiel, das hier allerdings schon im Kontext des Themas steht, auf das die »Hamletmaschine« insgesamt gestellt ist, nämlich des Selbstverrats der Linken.

Das Schellenkleid des Philosophen – das ist ein Bild des linken Theoretikers als Hofnarr, der im Rahmen des Erlaubten kritisiert, aber letztlich die Verhältnisse zur bestätigt.

Die Beleibtheit von Hamlet bezieht sich auf Brechts Hamlet-Deutung. Brecht hatte in den dreißiger Jahren einen Aufsatz oder vielleicht eher eine Sammlung von Glossen zu »Hamlet«, in der dieser, anders als man sich ihn üblicherweise vorstellt, als »beleibt«, das heißt als tatenunlustig, träge und in diesem Sinne intellektuell geschildert wird.

Der Bluthunddas ist Noske; es spielt also an auf die Niederschlagung der Revolution von 1918 durch die SPD, an der Noske ja federführend beteiligt war – wieder also das Motiv des Verrats der Linken an sich selbst.

Und der Panzer, das ist einerseits die Rüstung des Vaters, in die Hamlet, der in diesem Stück, aber schon bei Shakespeare gegen ihn rebelliert hatte, am Ende kriecht, mit ihm eins wird und zur Macht überläuft; sie sind aber andererseits die Panzer, die 1956 durch Budapest, 1968 durch Prag rollten und die für Müller eben den Punkt bezeichneten, an dem eine Ideologie, die von emanzipatorischen Ideen ausgegangen ist, umkippt in den bloßen, brutalen Machterhalt.

Immer wieder also, in einer extremen Verdichtung, geht es um den Verrat der Linken an sich selbst, die aus dem Gefühl der Ohnmacht entweder sich selbst zerstört oder zur Macht übergeht: Hamlet, der mit seinem Vater eins wird, gegen den er aufbegehrt hat.

Das ist also die Situation, und Müller hält sie für objektiv gegeben, jedenfalls zu dem Zeitpunkt, zu dem er das Stück verfasste. Gleichgültig, in welchem politischen System man lebt – ob in der Weimarer Republik, ob im sozialistischen Osten, in der BRD: die Unmöglichkeit, an den Verhältnissen handelnd etwas zu verändern, ist überall dieselbe. Nd auch die terroristische Option, die Müller 1978 in der BRD beobachten konnte und die er im letzten Bild der »Hamletmaschine« vo Ophelia, alias Ulrike Meinhof, schlaglichtartig beleuchtet, scheidet für ihn faktisch aus. Es gibt keine Handlungsoption für Hamlet, man kann, so der entmutigende Befund, nichts machen und noch das Nichtsmachen, das Nichtstun ist verkehrt.

Ich gehe jetzt erst einmal zurück zum »Hamlet«, um ihnen anzudeuten, wie es sich hier am Ende des Stücks verhält und warum Müller überhaupt darauf gekommen ist, diese Figur von Shakespeare zum Ausgangspunkt sener Gegenwartsdiagnose zu machen.

Die Deutung des gesamten Schlusses von Shakespeares »Hamlet«, ja im Grunde des gesamten Stücks, hängt an einer einzigen Partie im fünften Akt, die ich Ihnen zunächst einmal zitiere. Hamlet sagt hier:

HAMLET Not a whit, we defy augury. There is special providence in the fall of a sparrow. If it be now, ’tis not to come; if it be not to come, it will be now; if it be not now, yet it will come – the readiness is all. Since no man, of aught he leaves, knows what is’t to leave betimes, let be. (Hamlet, V/2)

HAMLET  Keine Spur! Vorzeichen bieten wir Trotz: eine besondere Vorsehung regiert selbst den Fall eines Spatzen. Ists jetzt, so ists nicht später; ists nicht später, so wird es jetzt sein; wird es nicht jetzt sein, so kommt es doch einmal später. Bereitsein ist alles. Da keiner das, was er verläßt, wirklich besitzt, was ists schon, es beizeiten zu verlassen? Seis drum. (Erich Fried)

Diese Sätze fallen an der Stelle im fünften Akt, an der Hamlet eingeladen wird, sich im Fechtkampf mit Laertes zu messen. Sie wissen alle, es handelt sich um eine Intrige. Die Florettspitze des Laertes ist vergiftet und darüber hinaus hat Claudius einen Gifttrank vorbereitet, den er Hamlet in einer Pause zwischen den Runden reichen will. Sie wissen auch, der der lan im Eifer des Gefechts vollkommen schief geht. Hamlet und Laertes tauschen versehentlich die Waffen und werden beide tödlich verwundet. Hamlets Mutter wiederum, die Durst spürt, trinkt an einer Stelle den vergifteten Wein und stirbt daran. Hamlet wiederum ersticht im letzten Moment den König mit dem vergifteten Florett. Also, das Schicksal, das sich hier auf der Bühne behauptet, hat keinen Sinn; es ist nichts weiter als die nach allen Seiten explodierende, alles mit sich reißende Kontingenz; – und Hamlet handelt, als er endlich die Rache vollzieht, über deren Berechtigung er seit dem Beginn des Dramas nachgesonnen hat, nurmehr als ein Werkzeug dieser losgelassenen Kontingenz. Dieser Unterwerfung unter das, was der Fall ist, dieser Selbstaufgabe des handelnden Individuums liefert die Stelle, die sie hier vor sich sehen, die passende Ideologie. Horatio will Hamlet davon abhalten, an dem Fechtkampf teilzunehmen; er ahnt die Intrige, er befürchtet irgendwelche Machenschaften, die sich gegen Hamlet richtet, – und Hamlet eben gibt ihm diesen Bescheid: dass es ihm nun gleichgültig geworden sei, was passieren werde. Ob er etwas tue oder nicht tue, sei egal; passieren werde sowieso, was passiere; es lohne sich nicht, dagegen aufzubegehren und so könne man sich sich dem, was ohnehin der Fall ist, auch fügen. Sehen Sie sich noch einmal die entscheidenden Sätze an, die den Kern dieser Ideologie einer nihilistischen Schicksalsergebenheit bilden:

If it be now, ’tis not to come; if it be not to come, it will be now; if it be not now, yet it will come – the readiness is all.

Das ist fast schon ein Beckettscher Schüttelvers. Man kann diese Sätze immer wieder lesen; sie bleiben unscharf und das, was sie sagen, verwandelt sich immer wieder zurück in eine sinnlose Abfolge von Worten – so sinnlos wie die Geschehende, von deren bloßer Faktizität hier auf auf ihre Sinnhaftigkeit zurückschließt. Nestroy hat einmal gesagt: Die Wirklichkeit ist immer der beste Beweis für die Möglichkeit, das heißt, aus der bloßen Tatsache, dass etwas so gekommen ist, wie es gekommen ist, wird gefolgert, dass es auch so hätte kommen müssen. Das ist eigentlich der Kern dieser Ideologie, die Hamlet hier vorträgt. Alles ist, wie es ist und deswegen muss es auch so sein, wie es ist; man kann selber nichts daran ändern, sondern sich dem nur fügen – durch readiness: Bereitschaft. Es geht also darum, sich wach und geistesgegenwärtig den Gegebenheiten zu fügen; sie nicht zu verändern, sondern sie hinzunehmen und in so etwas wie einer kristallklaren Schicksalergebenheit zu affirmieren. Wenn das gelingt, dann ist es auch möglich, die Rache zu vollziehen; erst dann, wenn Hamlet gleichgültig geworden ist, ob die Rache stattfindet oder nicht, kann sie stattfinden. Die ironische Wendung des Schlusses des »Hamlet« ist ja, das die Rache, weil sie Hamlet subjektiv egal geworden ist, auch objektiv egal geworden ist. Hätte Hamlet nichts getan, hätte Claudius weiter gelebt und alles wäre beim Alten geblieben. Hamlet hat am Ende Claudius erstochen; dadurch ist Fortinbras an die Macht gekommen, aber durch Fortinbras ändert sich substanziell nichts. Der Kreis schließt sich, das Drama kehrt am Grunde am Ende zu seinem Anfang zurück.

An dieser Stelle lässt sich, wie ich meine, auch erkennen, wieweit Hamlets Wendung am Ende der »Hamletmaschine« von Shakespeare vorgebildet ist. Der Hamlet bei Shakespeare läuft zwar nicht zur Macht über, aber die die neostoische, nihilistisch grundierte Gleichgültigkeit, die er in dieser Szene an den Tag legt, bereitet dem Übergang zum business as usual, der von Fortinbras vollzogen wird, den Weg. Subjektiv antizipiert Shakespeares Hamlet die Wendung zur Macht, die Müllers Hamlet dann faktisch vollzieht. Der frühneuzeitliche Aufklärer, der sich nicht in den Mechanismen der Macht verfangen will, ihr aber am Ende durch seine Indifferenz doch erliegt – das ist für Müller eine Allegorie der deutschen Linken und der Aporien, in denen sich diese Linke seit langer Zeit bewegt hat.


V

Um nun herauszufinden, was angesichts dieser verfahrenen Situation zu tun doch noch möglich wäre, helfen einem die Schlüsse dieser Dramen nicht weiter. Man muss zurückgehen, und zwar in die Mitte des jeweiligen Stücks. Die ›Lösung‹, der Umriss, der Entwurf einer Lösung, sie finden sich nicht am Ende, sondern im dritten Akt, beziehungsweise im dritten Bild des jeweiligen Dramas. Ich meine damit in beiden Fällen das Spiel im Spiel, also auf der einen Seite das Theaterstück, das Hamlet am Hofe von Dänemark aufführen lässt und auf der anderen Seite die mit dem Titel »Scherzo« überschriebene Einlage in Müller Stück, in der Hamlet zum einzigen Mal die Kontrolle abgibt, selber zum Mitspieler seines eigenen Stücks wird und sich dabei verwandelt.

Wenn es stimmt, dass die ›Lösung‹, die von diesen Dramen anvisiert wird, dort zu suchen ist, im Spiel im Spiel, im Theater, das auf dem Theater gespielt wird, dann ergibt sich daraus, wie ich finde, zwingend, dass die Lösung eben nicht auf der Ebene der Handlung, also im Sinne alternativer Handlungsoptionen zu suchen wäre, sondern auf der Ebene der Kunst. Indem das Theater sich selbst auf die Bühne bringt, reflektiert es auf sich selbst als Kunst; es zeigt, was es selbst als gespielte Realität ist; es zieht eine zweite Reflexionsebene ein, in der die Handlung nicht mehr unmittelbar, sondern als Kunst gebrochen dargestellt wird. Und daraus muss man schließen, dass die Lösung, die diese Dramen trotz ihrer resignativen Grundhaltung, eben in der Kunst zu suchen ist. Ist politisch gar nichts mehr zu machen, so bleibt immer noch die Kunst als Vorgriff auf eine andere politische Praxis.

Bei Shakespeare ist es ja so, dass Hamlet dieses Stück im Stück, »The murder of Gonzago«, zur Aufführung, weil er hofft, sein Onkel Claudius werde sich angesichts der Ähnlichkeit des in diesem Stück dargestellten Königsmordes mit der von Hamlet vermuteten Ermordung seines Vaters selbst überführen – sich verraten und Hamlet damit Gewissheit geben, dass sein Vater wirklich in der Weise getötet wurde, wie es der Geist seines Vaters im ersten Akt behauptet hatte. Aber das Theaterstück – »The Murder of Gonzago« – weicht in einem entscheidenden Punkt von der dramatischen Handlung des »Hamlet« ab. In ihm nämlich ist der Mörder des Königs nicht sein Bruder, sondern sein Neffe. In dem Theaterstück, das auf der Bühne gegeben wird, also im Kunstwerk, steht der Mörder zum Ermordeten in demselben Verwandtschaftsverhältnis wie Hamlet zu Claudius, das heißt, die zu rächende Tatdie Ermordung des alten Hamlets – und die Rachetatdie Ermordung des Claudius – überlagern einander und wenn dann Claudius das halb gespielte Stück verstört abbricht, so ist man so klug wie zuvor. Denn man weiß ja nicht, ob seine Verstörung auf schlechtem Gewissen beruht (weil er seine eigene Tat, also seine Ermordung des Claudius) auf dem Theater gespiegelt sieht; oder ob sie den Grund hat, dass er erkennt, dass Hamlet – sein Neffe – ihm nach dem Leben trachtet. Die Kunst also, symbolisiert durch das Spiel im Spiel, macht keinen Unterschied zwischen der angeblich bösen Tat des Claudius und der angeblich gerechten Vergeltung. Sie schiebt sie ineinander und macht damit auf den Konflikt aufmerksam, in dem Hamlet sich bewegt. Ist die Rache wirklich gerecht? Muss sich derjenige, der ein unrechtes Regime beseitigt, nicht derselben Mittel bedienen wie der Machthaber? Wird er nicht zu einem von ihnen? Und weiter: Koinzidiert Claudius, seinen Bruder zu töten, um an die Macht zu gelangen, nicht (wie es die Psychoanalyse ja immer wieder gesagt hat), mit seinem eigenen, also Hamlets Wunsch, seinen Vater zu beseitigen und sich an seine Stelle zu setzen. Täter und Opfer verschwimmen miteinander, alle stehen auf beiden Seiten des Gegensatzes und der Riss geht durch sie hindurch.

Darin bestünde also die Chance und die einzige Möglichkeit der Kunst: in einer Situation, in der das Handeln durch Konflikte und Ambivalenzen blockiert ist, in der man gehalten ist, sich für die eine oder die andere Seite zu entscheiden, beide Seiten aber falsch erscheinen, doch so etwas wie eine unmögliche Synthesis im Mittel der Kunst zu versuchen, indem man die Konflikte, in denen man sich bewegt, ausartikuliert und öffentlich macht: in der vagen Hoffnung, dass sich aus ihrer künstlerischen Darstellung und Reflexion doch einmal so etwas wie eine Option auf ein richtiges Handeln, das beiden Seiten Rechnung trägt, ergeben könnte; nicht ableitbar unmittelbar aus dem, was ist, sondern als utopische Hoffnung.

Nun zu Müller. Ich zitiere zunächst einmal den nicht allzu umfangreichen Text des gesamten Scherzos:

(Universität der Toten. Gewisper und Gemurmel. Von ihren Grabsteinen (Kathedern) aus werfen die toten Philosophen ihre Bücher auf Hamlet. Galerie (Ballett) der toten Frauen. Die Frau am Strick Die Frau mit den aufgeschnittenen Pulsadern usw. Hamlet betrachtet sie mit der Haltung eines Museums-(Theater)-Besuchers. Die toten Frauen reißen ihm die Kleider vom Leib. Aus einem aufrechtstehenden Sarg mit der Aufschrift HAMLET 1 treten Claudius und, als Hure gekleidet und geschminkt, Ophelia. Striptease Ophelia.)

OPHELIA Willst Du mein Herz essen, Hamlet. (Lacht.)

HAMLET (Hände vorm Gesicht:) Ich will eine Frau sein.

(Hamlet zieht Ophelias Kleider an, Ophelia schminkt ihm eine Hurenmaske, Claudius, jetzt Hamlets Vater, lacht ohne Laut, Ophelia wirft Hamlet eine Kußhand zu und tritt mit Claudius / Hamlets Vater zurück in den Sarg. Hamlet in Hurenpose. Ein Engel, das Gesicht im Nacken: Horatio. Tanzt mit Hamlet.)

STIMME(N)  (aus dem Sarg:) Was du getötet hast sollst du auch lieben.

(Der Tanz wird schneller und wilder. Gelächter aus dem Sarg. Auf einer Schaukel die Madonna mit dem Brustkrebs. Horatio spannt einen Regenschirm auf, umarmt Hamlet. Erstarren in der Umarmung unter dem Regenschirm. Der Brustkrebs strahlt wie eine Sonne.)

Ich kann nicht hoffen, Ihnen diesen befremdlichen, magischen und surrealen Text rückstandslos zu erläutern. Ich glaube auch gar nicht, dass das der Sinn dieses Textes ist. Ich muss mich damit begnügen, aus diesem hochgradig überdeterminierten Geflecht einige wenige Fäden herauszuziehen, die ich für wesentlich halte.

Zur Universität der Toten. Hamlet, das wissen wir, ist Intellektueller. Bei Shakespeare hat er an der Universität Wittenberg studiert – in der frühen Neuzeit, also um 1600, eine der progressivsten Univesitäten ihrer Zeit, an der unteren anderem Giordano Bruno unterrichtet hat. Wenn nun die toten Philosophen, mit denen man sich ja als Philosophiestudent in der Hauptsache beschäftigt, ihre Bücher auf Hamlet werfen, so bedeutet das, dass Hamlet von ihnen desertiert; dass er sich anschickt, zu einer anderen Praxis überzulaufen, und zwar einer Praxis, die nicht den abstrakten Gegensatz zu einer Theorie bildet, die über der Erfahrung steht, sondern in der sich in einer spezifischen Weise Theorie und Praxis miteinander verknüpfen. Warum dies – für Müller jedenfalls mit der ästhetischen Praxis koinzidiert, zeigt sich im weiteren Verlauf des Bildes.

Galerie / Ballett der toten Frauen. Müller hebt an der Hamlet-Figur ein Moment heraus, das zwar bei Shakespeare vorkommt, aber dort eine nicht so zentrale Rolle spielt. Ich meine das Geschlechterverhältnis. Die Figur dieses Intellektuellen bei Shakespeare ist ja grundiert von seiner unfassbaren Gemeinheit und Boshaftigkeit Ophelia gegenüber. Dem ineinanderkippenden Auseinanderfallen von abstrakter Theorie und zynischer Praxis entspricht bei Hamlet das unvermittelte Nebeneinander von hochfliegender und bisweilen übermoralischer Geistigkeit und einer rohen Obszönität in sexuellen Dingen. Müller greift diesen Aspekt auf und verbindet ihn mit den Diskussionen, die vor allem in der westlichen Linken in den siebziger Jahren geführt wurde – mit den Diskussionen also, die sich um die Frage bewegten, ob das Geschlechter- oder das Klassenverhältnis den sogenannten Hauptwiderspruch bilde, die aber im Grunde seit der »Umsiedlerin«, ganz massiv aber dann in dem Stück »Zement« akut sind. »Die Hamletmaschine« ist auch ein Stück über die Rache der Frauen an einer vermeintlich geschlechtsneutralen, in Wahrheit aber patriarchalen Theorie und Praxis; es ist aber auch ein Stück darüber, dass die bloße Rache zwar gerechtfertigt sein mag, aber nichts nützt. An ihre Stelle tritt im dritten Bild – und meines Erachtens nur hier – die Selbstverwandlung des Menschen durch die Überwindung des Geschlechtergegensatzes. Das aber ist vorläufig allein in der Kunst möglich. Einmal zeigt sich das daran, dass die toten Frauen Hamlet die Kleider vom Leib reißen. Diese Stelle markiert einen entscheidenden Unterschied zu Shakespeare. Bei Shakespeare bleibt Hamlet außerhalb seines Stücks. Er ist Autor, er ist Regisseur und er ist während der Aufführung auch eine Art Conférencier, der es kommentiert; aber er spielt selbst in dem Stück, in dem seine Geschichte in all ihren Ambivalenzen verhandelt wird, nicht mit. Das ist hier anders. Hamlet wird offenbar mit Gewalt zum Mitspieler gemacht, er verwandelt sich durch die Kunst, er wird nackt, das heißt initiatorisch vorbereitet für eine Transformation seiner eigenen Existenz, und zwar in der Richtung eines geschlechtlichen Hybrids, einer gender-crossing-personality. Das zeigt einmal der Satz: Ich will eine Frau sein, und zum anderen zeigt es dieser kurze Moment, in dem Hamlet und Ophelia die Kleider tauschen. Für einen Moment stehen sie nackt nebeneinander, gewissermaßen als unbeschriebens Blatt des neuen Menschen. Dann schminkt sie ihm die Hurenmaske und in diesem Moment ist der Geschlechtergegensatz für einen Moment aufgehoben.

Der dritte Punkt, den ich herausgeben möchte, ist der Tanz mit dem Engel. Um dieses Bild zu verstehen, muss man den Prätext einbeziehen, auf den sich Müller hier mit hoher Wahrscheinlichkeit bezieht – nämlich Benjamins neunte geschichtsphilosophische These. Ich vermute, dass viele von Ihnen diesen ungeheuer eindrucksvollen Text kennen; da er aber zu denen gehört, die man nicht oft genug lesen kann, möchte ich ihn einmal vollständig zitieren:

Es gibt ein Bild von Klee, das Angelus Novus heißt. Ein Engel ist darauf dargestellt, der aussieht, als wäre er im Begriff, sich von etwas zu entfernen, worauf er starrt. Seine Augen sind aufgerissen, sein Mund steht offen und seine Flügel sind ausgespannt. Der Engel der Geschichte muß so aussehen. Er hat das Antlitz der Vergangenheit zugewendet. Wo eine Kette von Begebenheiten vor uns erscheint, da sieht er eine einzige Katastrophe, die unablässig Trümmer auf Trümmer häuft und sie ihm vor die Füße schleudert. Er möchte wohl verweilen, die Toten wecken und das Zerschlagene zusammenfügen. Aber ein Sturm weht vom Paradiese her, der sich in seinen Flügeln verfangen hat und so stark ist, daß der Engel sie nicht mehr schließen kann. Dieser Sturm treibt ihn unaufhaltsam in die Zukunft, der er den Rücken kehrt, während der Trümmerhaufen vor ihm zum Himmel wächst. Das, was wir den Fortschritt nennen, ist dieser Sturm.

Dieser Text ist für Müller sehr wichtig gewesen; er hat ihn mehrere Male überarbeitet und umgeschrieben. Wenn meine Vermutung stimmt, dass auch dies eine Partie ist, an der sich Müller auf Benjamins Text bezieht, dann heißt das, dass an dieser Stelle im dritten Bild der »Hamletmaschine« das Thema der Geschichtsphilosophie mit verhandelt wird. Müller bezieht hier Stellung zur Geschichtsphilosophie – was bei einem Künstler marxistischer Herkunft natürlich erst einmal heißt: eine Stellungnahme zur marxistischen Geschichtsphilosophie. Dass es sich darum dreht, indiziert meines Erachtens auch eine kleine, aber entscheidende Veränderung, die Müller gegenüber Benjamin vorgenommen hat. Der Engel in der »Hamletmaschine« hat ja seinen Kopf verkehrt herum auf: das Gesicht im Nacken, heißt es im Text. Versucht man, das auf Benjamins Bild zurückzuübertragen, so ergibt sich daraus eine vollkommen paradoxe Konstruktion. Wir hätten dann den Benjaminschen Engel, den Körper der Vergangenheit zugewendet, die Hände der Vergangenheit zugewendet, die versuchen, den Opfern Gerechtigkeit widerfahren zu lassen und alles das, was vom Fortschritt überrollt, vergessen und vernichtet wurde, wiedergutzumachen; – und gleichzeitig kann er das, was er da wiedergutmachen will, gar nicht sehen, weil ihm der Kopf, wie in manchem Märchen, verkehrt herum aufgesetzt worden und er in die Zukunft zu starren gezwungen ist: einer Zukunft, der er sich hilflos entgegentreiben fühlt. Gleichzeitig figuriert dieses Bild – das Auseinanderreißen von Motorik und Gesichtssinn – das Auseinanderfallen von Theorie und Praxis, für das Hamlet das ganze Stück hindurch einsteht.

Dass diese Figur – ich habe bisher immer von Hamlet gesprochen – an dieser Stelle von Horatio übernommen wird, ändert nichts daran, dass das Bild so etwas wie eine metaphorische Symptomatologie von Hamlet liefert. An dieser Stelle, an der Hamlet sich schon in einen neuen Menschen oder wenigstens in den Vorbegriff davon verwandelt hat, übernimmt Horatio, sein engster Freund, ein Stück weit die Rolle des alten Hamlet (also nicht von Hamlets Vater, sondern von dem, was Hamlet vorher war). Horatio ist der alte Hamlet, der mit dem neuen Hamlet tanzt.

Und das ist nun allerdings entscheidend. Die Konstruktion des Bildes bei Benjamin nämlich ist ganz linear. Es gibt die Vergangenheit, das Paradies, die Zukunft, es gibt den Engel, der zwischen ihnen hängt wie Christus am Kreuz, und es gibt den Sturm, der diesen Engel in die Zukunft treibt, ohne dass der sich der Vergangenheit so zuwenden kann, wie er das gerne möchte. Und dieses lineare Bild wird nun in dem Tanz von Hamlet und Horatio, also des alten Hamlet mit dem neuen Hamlet, des marxistischen Engels der Geschichte mit der subversiven und queeren Gegenfigur in eine Drehbewegung verwandelt. Der ganz Richtungssinn des Benjaminschen Bildes, der ganze Richtungssinn dieser Geschichtsphilosophie wird aufgehoben. Es gibt in der Konstruktion dieses Müllerschen Bildes keine Vergangenheit und keine Zukunft mehr, sondern allein noch die Gegenwart des Tanzes. Der Tanz hebt Zukunft und Vergangenheit und damit die Geschichtsphilosophie auf. Und das setzt sich auch dann fort, wenn der Tanz, wie es am Schluss heißt, erstarrt. Erstarren in der Umarmung unter dem Regenschirm. Dieses Erstarren bedeutet nicht, dass die Bewegung aufhört, sondern im Grunde ihre Verabsolutierung, dann nämlich, wenn eine Bewegung so schnell wird, dass sie am Ende stillzustehen scheint. Und damit ist diese Gegenwart, die in Müllers Korrektur an Benjamin gegen eine auch bei Benjamin noch immer immer linear organisierte Geschichtsphilosophie gerichtet ist, verabsolutiert.

Sie ahnen wahrscheinlich, worauf ich hinauswill. Dieser sich aus der Geschichte herausdrehende Tanz, dieses Bild, das quer steht zu dem großen Verpflichtungszusammenhang von Zukunft, Gegenwart und Vergangenheit, auf den alle Geschichtsphilosophie hinauswill – genau das ist das Sinnbild der Kunst; genau das ist die Fähigkeit der Kunst, aus dem, was man tun muss und nicht tun kann, herauszuspringen und Bilder zu entwerfen, die so etwas wie einen ›anderen Zustand‹, eine andere Menschheit, ein anderes Verhältnis von Vernunft und Gefühl, Bewusstem und Unbewusstem – all das kontrafaktisch zu entwerfen nicht mehr im Modus der bestimmten Negation und der immanenten Kritik, sondern, wenn Sie so wollen, der abstrakten Negation. Auf diese Funktion der Kunst weist, glaube ich, auch das Bild von der Madonna mit dem Brustkrebs. Auf der einen Seite spielt diese Madonna auf das Christentum an und damit auch auf die christliche Heilsgeschichte als einem Vorläufer der säkularen Geschichtsphilosophien von Hegel und Marx. Gleichzeitig schaukelt diese Madonna. Auch hier wird also die lineare Bewegung der Geschichte in eine Hin- und Herbewegung überführt, die sich ganz ähnlich wie die Drehbewegung des Tanzes quer stellt gegenüber dem Mittel-Zweck-Verhältnis und der letztlich nicht aufzuhebenden Gegenwartslosigkeit jeglicher Geschichtsphilosophie.

Selbst noch der Krebs scheint mir ein Bild für die Kunst zu sein. Der Krebs, ein Geschwür, das subversiv wuchert und den gesamten Körper zersetzt, den es schließlich tötet – wildes Fleisch, das sich an keine Regeln hält und das vielleicht doch eine Ahnung davon gibt, was der Mensch jenseits aller zwanghaften Organisationsformen als Kollektiv und wildes Tier einmal sein könnte. Wenn dieser Krebs am Ende strahlt wie eine Sonne, so ist dies eben, wie in den sozialistischen Liturgien, in denen das Bild von der Sonne tausend Mal vorkommt, die Ankündigung eines neuen Zeitalters, die Utopie eines neuen Menschen, von dem die Kunst ein Vorschein gibt.

Vielleicht finden Sie diese Deutung des Krebses als Symbol der Kunst obszön. Ein Beleg dafür findet sich in einem allerdings späten Gedicht von Müller, mit dem ich meinen Vortrag beschließen möchte. Sie wissen wahrscheinlich alle, dass Müller Anfang der neunziger Jahre an Krebs erkrankte, an dem er 1995 verstarb. Aus dieser allerletzten Zeit, stammt das folgende Gedicht, das ganz minimalistisch, jedoch fundiert in einem großem persönlichen Heroismus, den Krebs positiviert und noch einmal an das dritte Bild der »Hamletmaschine« anknüpft, in dem sich die ästhetische Transzendenz des Tragischen durch die Kunst for­ muliert.

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