Wolfram Ette

»Kerzenlicht«

Zum Verhältnis von Stil und Stimme bei Adorno


Stil und Wirkung

Die spezifische Wirkung, die das Denken Adornos bis heute entfaltet und es weit über das akademische Milieu hinaus zu einem Attraktionspunkt für all diejenigen macht, denen einer kritischen Reflexion der Verhältnisse, in denen sie leben, gelegen ist - eine Wirkung, durch die sich Adorno signifikant von anderen Philosophen des zwanzigsten Jahrhunderts unterscheidet, hat verschiedene Gründe. Sie, diese Wirkung nämlich, hängt zum einen mit dem Gehalt seiner Philosophie zusammen; das will sagen: mit der Unnachgiebigkeit eines kritischen Verhaltens, das sich gegen den Rationalismus des europäischen Denkens insgesamt richtet und den Leser mit dem suggestiven Privileg ausstattet, dabei zu sein, wenn das eigentliche Philosophieren allererst beginne. Auch Heidegger hat diesen Gestus, in dem sich Destruktion und Anfänglichkeit verschränken, kultiviert und damit Jünger gefunden -: womit rein gar nichts gegen den Wahrheitsgehalt der einen oder der anderen Philosophie gesagt, sondern lediglich bemerkt sein will, dass er allein für eine gesellschaftliche Breitenwirkung schwerlich ausreiche.

Zur Weihe des radikalen oder anfänglichen Denkens kommt im Falle Adornos die biografische Rolle dazu, die er, der jüdische Remigrant, innerhalb der westdeutschen Nachkriegsgesellschaft gespielt hat. Für die kritische Intelligenzia besaß er ebenso unbegrenzten Kredit wie für große Teile des konservativen Kulturbürgertums; das Ineinander von bourgeoiser Konvention und idiosynkratischer Fremdheit innerhalb der bürgerlichen Gesellschaft machte ihn zu einer Identifikationsfigur: ein paradox ausbalancierter Konsens, der 1968 und in denJahren danach allmählich zerbrach. Danach waren Figur und Werk zerbrochen, denn sie erschienen entweder als letztes Denkmal der untergegangenen bürgerlichen Kultur - schön, aber obsolet -, oder als Statthalter fleckenloser Reinheit, eines theoretischen Habitus also, der sich den gegebenen Umständen an keiner Stelle anpasst; als Sprachrohr der Opfer, an deren garantierter Unschuld derjenige teilhat, der sich selbst dazu bekennt.

Aber dies sind bloß Andeutungen. Sie haben wenig mehr zum Ziel, als den Rahmen zu entwerfen, in dem sich die folgenden Überlegungen bewegen werden. Ihr Gegenstand ist nämlich ein drittes Element, das für Adornos Wirkung nicht nicht geringerer Bedeutung gewesen ist als die Universalität kritischen Verhalten, der Gestus des Anfangens und die Identifikation mit dem Opfer. Ich meine Adornos Stil. Dieser Stil wurde imitiert und karikiert; sofort wiedererkennbar, ist er ein Faszinosum, das für viele den Ausgangspunkt ihrer Beschäftigung mit Adornos bildet; gleichzeitig führen seine offenkundigen Manierismen häufig dazu, dass man sich irgendwann übersättigt abwendet - und das heißt leider auch: die Gehalte ignoriert.

Wie dem auch immer sei: Adornos Stil ist einer der prägnantesten Erkennungszeichen seines Werks und schon um dessentwillen verdient er eine genaue analytische Auseinandersetzung. Es wird also im folgenden darum gehen, das stilistische Erscheinungsbild von Adornos Philosophie auf seinen Grund zurückzuführen und zu fragen: Auf welche Weise hängt es mit seinen Gehalten, also mit dem, was dieses Werk substanziell ausmacht, zusammen?



Konstellation

Der Begriff, auf den hin sich fast alle Stileigentümlichkeiten Adornos systematisch ordnen lassen, ist der der Konstellation - was ist mit ihm gemeint?

Konstellation ist ganz offenkundig ein Gegenbegriff zum identifizierenden, womöglich durch einen deduktiven Schluss zustandegekommenen, Urteil. Anstatt das, was man erkennen möchte, in der Form »A=B«, »Dies ist ein Mensch« oder »Dieser Mensch ist schlecht« festzustellen, wird die zu erkennende Sache zum Bestandteil einer Konstellation von Urteilen, die sie umgeben, sie wird in wechselnde begriffliche Kontexte versetzt, die voneinander verschieden sind, ja sich unter Umständen sogar widersprechen können.

Damit hängt die spezifische Schwierigkeit zusammen, die die Auseinandersetzung mit Texten von Adorno mit sich bringt: Es fehlt ihnen oft an klarer begrifflicher Distinktion; sie definieren nichts und scheinen sich immer wieder zu entziehen. So sehr man sich ihnen auch nähert, es bleibt eine Restunschärfe.

Der Grund dafür ist aber nicht in einer Nachlässigkeit des Denkens, sondern in Adornos Wirklichkeitsbegriff zu suchen. Im Zentrum der »Negativen Dialektik« steht die Behauptung, dass die zu erkennende ›Sache‹ kein Fixum darstellt, sondern ein widersprüchliches und seinen Widerspruch prozesshaft austragendes Verhältnis. Realität, deren Reflexion die Aufgabe der Philosophie darstellt, ist kein Körper, kein Ding, das sich ein für allemal fassen ließe, sondern der Kristallisationspunkt der Geschichten, die von ihr erzählt werden können. Diese Geschichte können sich widersprechen, sie können schief zueinander stehen; sie lassen sich nicht in ein geschlossenes Bild vereinigen. Die Konstellation ist das Erkenntnisverfahren, das diesem nicht-substanzialistischen Wirklichkeitsbegriff Rechnung trägt. Die Konstellation ist eine nicht zu synthetisierende, nicht einmal abschließbare und selbst wandlungsfähige Ansammlung von Urteilen. Jedes einzelne Moment der Konstellation ist ein Urteil; es verfährt identifizierend und schneidet auf diese Weise spezifische Momente der Sache weg. Ein jedes Urteil tut dies aber auf andere Weise, so dass sich aus der Figur, die die Konstellation um die Sache bildet, sie selbst doch in etwa erkennen lässt: besser jedenfalls wie wenn definitorisch vorgegangen werden würde.

Wie verhält sich nun die Konstellation zur Dialektik? Was macht sie zu einem Zentralstück der »Negativen Dialektik«? Zum einen unterschiedet sich das konstellative Verfahren darin vom Hegelschen, dass es nicht linear vorgeht. Hegels Dialektik verfährt ja im großen und ganzen so, dass die immer weitergehende, immer vollkommenere Reflexion der Sache auf dem Weg einer immer durchdringenderen Selbstreflexion zustande kommt. Das erkennende Subjekt begreift, dass das, was es erkennt, in großen Anteilen von ihm selbst produziert ist. Die Natur, die bei Kant als eine zuletzt unzugängliche dem erkennenden Menschen gegenübersteht, ist ja in Wahrheit eine von den menschlichen Kollektiven gemachte, und zwar in immer größerem Umfang. Das will sagen, dass die kategorische Unterscheidung von Erscheinung und Ding an sich überall dort nicht greift, wo wir es mit Gegenständen zu tun haben, die von uns, also der menschlichen Gattung, geschaffen wurden. Wo der Mensch die Welt betritt, verändert er sie, und Geist ist ebenso Erkenntnis wie kulturschaffende Tätigkeit.

Bis zu diesem Punkt wäre Adorno wohl ganz einverstanden. Er weicht erst dort ab, wo Hegels Idealismus sich der Vorstellung ergibt, dass im geschichtlichen Fortschritt des Bewusstseins die von ihm zuletzt vollständig geschaffene Welt auch als von ihm vollständig produzierte verstanden wird. In diesem absoluten Wissen, in dem der Mensch sich in seiner gesamten kulturellen Praxis ohne jeden Naturrest selbst erkennt, realisiert sich - erst am Ende der Geschichte des Bewusstseins, also der »Phänomenologie des Geistes« - die Identität von Subjekt und Objekt, Bewusstsein und Welt, um deren Erweis sich der deutsche Idealismus bemühte.

Gegenüber diesem linearen Verfahren einer immer weiter zunehmenden reflexiven Aufsteigerung artikuliert die Konstellation einen offenen Pluralismus von Perspektiven, die sich zuletzt nicht in ein höheres Ganzes auflösen lassen. Immer wieder erscheint dahinter flüchtig ein Gemeinsames - wie das Sternkreiszeichen, das man um die Sterne für einen Moment am Himmel sieht -, es lässt sich aber dauerhaft weder herstellen noch festhalten.

Vor allem anderen ist ja die Konstellation eine räumliche Metapher, verwandt etwa der Vorstellung des Netzes; die Idee eines systematisierbaren geschichtlichen Fortschritts lässt sich darin nicht unterbringen. Daran hängt auch das zweite Unterscheidungsmerkmal zwischen Adornos Methodenbegriff und der Hegelschen Dialektik: dass nämlich in keinem Falle die Konstellation einer abschlusshaften Erkenntnis ihres Gegenstands entgegenstreben kann. Der Gegenstand selber verändert sich nämlich nicht allein durch, sondern auch gegen den Prozess seiner Erkenntnis. Die antiidealistische These, dass Begriff und Realität nur partiell identisch sind, bedeutet, dass die Realität ein begriffsunabhängiges Eigenleben führt.

Deswegen kennt das Verfahren der Konstellation keinen Fortschritt. Eine jede fängt wieder von neuem an; sie muss immer wieder neu zusammengesetzt, konfiguriert und angereichert werden. Nehmen wir einmal an, Adornos Texte wären selber konstellativ gebaut - sie wären dann ein System von Leerstellen, in die der Leser nicht als Konsument eintreten, sondern zum Produzent ermächtigt werden würde. Er hätte fortzuführen, womit Adorno begann: Realität und Begriff(e) stets wieder neu aufeinander zuzubewegen. Ließe sich diese Annahme wahrscheinlich machen, so erschlösse sich ein sachliches Fundament, auf dem die von Adornos Stil ausgehende Faszination jenseits von Imitation und Karikatur beruhen würde.



Das Diktat

Die erste Überlegung, die auf den Zusammenhang von ›Stil‹ und ›Konstellation‹ einiges Licht werfen soll, betrifft die Genese von Adornos Texten, mit anderen Worten: der Konversion von Mündlichkeit zu Schriftlichkeit, der er fast alle seine Texte unterwarf.

Adorno hat seine Texte grundsätzlich diktiert. Nur in wenigen Fällen stimmt das oft improvisierte Diktat mit der Endgestalt des Textes überein; in aller Regel wurde es einem aufwendigen Umarbeitungsprozess unterworfen, bei dem im Grunde kaum ein Satz so blieb, wie er ursprünglich gelautet hatte. Dennoch hat Adorno an dieser Arbeitstechnik festgehalten, und man muss sich fragen, was ihn dazu bewogen hat, worin für ihn also nicht lediglich der pragmatische Vorteil, sondern auch der Erkenntnisvorzug der Methode bestanden haben könnte.

Adorno selber hat sich nur einmal, nämlich in dem Aphorismus »Lämmergeier« der »Minima Moralia« dazu geäußert. Der Vorteil des Verfahrens besteht diesem Text zufolge darin, dass es Spontanität und kritische Revision in eine maximale Spannung zueinander bringt. Es heißt dort:

Zu diktieren ist nicht bloß bequemer, spornt nicht bloß zur Konzentration an, sondern hat überdies einen sachlichen Vorzug. Das Diktat ermöglicht es dem Schriftsteller, sich in den frühesten Phasen des Produktionsprozesses in die Position des Kritikers hineinzumanövrieren. Was er da hinstellt, ist unverbindlich, vorläufig, bloßer Stoff zur Bearbeitung, tritt ihm jedoch zugleich, einmal transkribiert, als Entfremdetes und in gewissem Maße Objektives gegenüber. Er braucht sich gar nicht erst zu fürchten etwas festzulegen, was doch nicht stehenbliebe, denn er muß es ja nicht schreiben: aus Verantwortung spielt er dieser einen Schabernack. Das Risiko der Formulierung nimmt die harmlose Gestalt erst des ihm leichthin präsentierten Memorials, dann der Arbeit an einem schon Daseienden an, so daß er die eigene Verwegenheit gar nicht recht mehr wahrnimmt. (GS 4, 242)

Das komplexe Wechselspiel von Risiko und Kontrolle bestimmt aber schon den Diktiervorgang selbst und übüberhaupt jede Form der - von Adorno ja sehr kultivierten! - öffentlichen Rede. Manchmal verspricht man sich und muss dann doch in irgend einer Form, da man das Versprechen - den Versprecher, der zugleich ein Versprechen ist - nicht auslöschen und ungeschehen machen kann, sich irgendwie dazu verhalten, irgendwie darauf reagieren. Das ist »die allmähliche Verfertigung der Gedanken beim Sprechen«: Kein Defizit, sondern ein Mehr an geistiger Aktivität. Mitunter fallen einem Dinge ein, die man sich vorher nicht überlegt hat; man vertraut sich dem Fluss der Worte und Gedanken an, improvisiert drauflos; oft entsteht etwas Neues genau auf diesem absichtslos-spontanen Wege; gleichzeitig muss man darauf achten, den Faden nicht restlos zu verlieren. Das gesprochene Wort, bei dem in vielen Fällen (selbst bei Adorno!) am Anfang des Satzes noch nicht genau feststeht, wie er am Ende ausgeht, ist ein autopoietisches, sich selbst organisierenden System, es ist Geist in actu, in der Herstellung seiner selbst.

Mir scheint, dass Adorno dieses Moment durch alle Überarbeitungsschichten hindurch als Kern auch der gedruckten Texte festhalten wollte. Dass Geist Gegenwart, Präsenz ist; etwas, das erst im Vollzug Richtung und Zusammenhang gewinnt und eine zeitliche Synthesis herstellt, die nicht vorab festgelegt ist, sondern durch ihren eigenen Prozess sich bildet, - das bindet den Geist ans gesprochene und nicht ans geschriebene Wort. Und es ist eben dieser Geisteskern, dieses Feuer von Aktualität und Präsenz, das Adorno zwar umhüllen, aber nicht begraben wollte.



Stimme und Begehren

Man kann nun nicht von der Gegenwart des Geistes in der Stimme reden, ohne gleichzeitig das Verhältnis von Stimme und Körper, beziehungsweise von Stimme und Begehren in den Blick zu nehmen. Adorno hat, soweit ich weiß, darüber nicht reflektiert; es scheint mir aber notwendig zu sein, um die zentrale Rolle, die Mündlichkeit für sein Werk und dessen Wirkung hat, zu verstehen. Wie immer man das Verhältnis von Stimme und Körper fasst: fest steht jedenfalls, dass in der Stimme, im gesprochenen Wort, im Gesang, im Sprechgesang die Beziehung von Geist und Körper, Zeichen und Begehren von einer Dichte und Intensität ist, wie sie das geschriebene Wort nie erreichen kann. Stimme, die redende, sprechende Stimme, ist Gegenwart des Geistes, weil sie Gegenwart des Körpers und seiner Regungen ist, auf das die anderen, die hörenden Körper, unwillkürlich und mimetisch reagieren.

Ja, noch das Zusammenspiel von Improvisation und Planung, Spontanität und Kontrolle, das ich eben als das Lebenselixier des Geistes zu skizzieren versucht habe, verdankt sich dem Widerspiel der somatischen und der administrativen Impulse, der Interferenz der unbewussten, über den Körper in die Stimme geschleusten Eigensinns der Assoziationen und der planerischen Verfügung über das Ganze. In dieser Form, in dieser Gestalt ist Geist Gegenwart, allein in dieser Form vermag er zu bilden und durchs Begehren charismatisch zu wirken. Bildung - der Weg, der vom Nichtwissen zum Wissen führt - ist erotisch vermittelt und das Begehren hängt wesentlich am Geist und Körper vermittelnden Charisma der Stimme.

Nun ist Charisma ein zwiespältiger Begriff. Denn wenn auf der einen Seite zu jedem Bildungserlebnis nennt, die Erfahrung eines charismatischen Lehrers (und das heißt wesentlich: seiner Stimme) gehört, auf der anderen Seite steht gerade das Charisma dem Missbrauch jeder Art offen. Überblickt man die Stellen, an denen Adorno von der Stimme spricht, so demonstrieren sie eine ähnlich gelagerte Zwiespältigkeit. Denn einerseits geht in Adornos Verhältnis zur Stimme eine historische Erfahrung ein, die er mit vielen anderen Angehörigen seiner Generation gemeinsam hat. Das ist die Erfahrung der propagandistischen Stimmen des Faschismus: in der Stimme als absoluter Autorität, die bedingungslosen Gehorsam fordert und der die Massen ebenso bedingungslos verfielen, manifestiert sich das Schreckbild der kalkuliert in den Dienst genommenen Stimme der Natur. Diese Instrumentalisierung der verdrängten Natur bestimmte aber auch das demokratische Pendant der faschistischen Propaganda, nämlich die Kulturindustrie. Adorno heftigste Attacken im Kulturindustrie-Kapitel der »Dialektik der Aufklärung« gelten der Stimme des »Crooners«, des großen, medial gefeierten Schnulzensängers, dessen stimmlicher Schmelz über die Wunden, die die Kultur geschlagen hat, hinwegtäuschen soll, und der seiner ganzen Statur nach ein synthetisches Produkt eben der Industrie ist, von der frei zu sein sie verheißt. Stimme, pur und unmittelbar genommene Stimme, ist immer Ideologie. So heißt es: Die heulende Stimme faschistischer Hetzredner und Lagervögte (…) ist so kalt wie das Geschäft. Sie enteignen noch den Klagelaut der Natur und machen ihn zum Element ihrer Technik(3, 207).

Gleichwohl wäre Adorno nicht Adorno, enthielte diese Ideologie nicht andererseits auch ein Moment von Wahrheit. Es gibt Stellen, an denen er davon spricht, dass gerade das Naturmoment der Stimme, der körperliche »Klagelaut«, der in ihr steckt, durch alle Vermittlungen hindurch errettet werden müsse. Was die Musik, d.h. die kompositorische Praxis anbelangt, so besteht eine Möglichkeit, dieser Forderung gerecht zu werden, darin, keinen Kult der Stimme zu betreiben, wie es die Kulturindustrie tut, sondern die Stimme den Klängen der Instrumente anzunähern, von denen sie sich doch abheben soll. Die Stimme, der Impuls der Stimme soll in dem ihr Fremden aufbewahrt bleiben. Und was das Denken betrifft, so scheint mir Adornos Arbeitsweise, diktierend zu beginnen und am Erdenrest lebendiger Mündlichkeit durch alle Vermittlungs- und Überarbeitungsschritte festzuhalten, von derselben Intention Zeugnis abzulegen. Das Charisma der Stimme wird dadurch zugleich erhalten und gebrochen.



Von der Stimme zur Schrift

Freilich sind dies alles noch bloße Behauptungen. Es wäre zu zeigen, in welcher Weise konkret Adornos publizierte Texte jenen Erdenrest lebendiger Mündlichkeit erhalten und transportieren. Dabei fällt erst einmal auf, dass Adornos mündliche Rede und sein Schriftstil denkbar weit auseinanderliegen. Die mündliche Rede zeichnet sich in der Regel durch lange Sätze und komplizierte hypotaktische Konstruktionen aus; in der Überarbeitung fällt all dies fort und macht einer lakonischen Abfolge meist kurzer Hauptsätze Platz.(evtl Nachweis) Geht darin nicht das Spezifikum der mündlichen Rede vollständig verloren?
Adornos Art zu sprechen ist außerordentlich prägnant. Seine Stimme gehört wohl zu den Stimmen des zwanzigsten Jahrhunderts, die sich auf Anhieb am leichtesten wiedererkennen lassen und sie dürfte zu seinem intellektuellen Charisma einiges beigetragen haben. Wenn man also wissen will, ob und in welcher Form Adornos Stimme in seinen geschriebenen Texten überlebt, muss man sich erst einmal über die artikulatorischen Besonderheiten von Adornos Stimme verständigen.

Das erste, was auffällt, ist die überaus deutliche Aussprache der einzelnen Worte; und zwar in zweierlei Hinsicht. Zum einen nämlich trennt Adorno auch dann, wenn er relativ schnell spricht, die einzelnen Worte sorgfältig voneinander; er baut immer kleine Pausen zwischen ihnen ein. Das bedeutet nicht - oder jedenfalls nicht in der Regel -, dass die Sätze dadurch weniger melodisch wären als bei jemandem der beim Sprechen lange Ligaturen macht. Gleichwohl besteht im Falle Adornos eine ziemlich große Spannung zwischen dem melodischen Bogen der Phrase und dem Gewicht, das er aufs einzelne Wort legt. Das heißt, dass durch die Art und Weise, in der Adorno seine mündlichen Perioden artikuliert syntaktische Ganzheiten entstehen, die das Eigenrecht, den Eigensinn der einzelnen Elemente, aus denen sie zusammengesetzt sind, nicht unterdrücken, sondern freigeben. Der Satz ist in Adornos Rede keine organische Einheit. Das Ganze ist nicht mehr als die Summe seiner Teile, im Gegenteil: die Summe der Teile ist mehr als das Ganze. Mir ist das besonders an Stellen aufgefallen, an denen Adorno von persönlichen Erfahrungen berichtet.

So erzählt er in einem Radiogespräch mit Erika Mann und Adolf Frisé über die Erfahrungen der Remigranten bei ihrer Ankunft in Europa von einem Abend, den er auf einem Landhaus in der Nähe von Frankfurt verbracht hat, in dem es kein elektrisches Licht gab. Die ganze Gesellschaft wurde also durch Kerzenschein erhellt. Adorno spricht darüber, dass er in all den Jahren in Amerika keine Kerze zu Gesicht bekommen hat - und wenn überhaupt, dann nur als luxuriöse Dekoration einer Wohnung, die mit elektrischem Licht versorgt ist und es sich auf diese weise ein wenig heimelig und vorindustriell machen möchte. Adorno spricht dieses Wort »Kerzenlicht« so aus, dass die Endkonsonanten gar nicht aufzuhören scheinen - als läge in der fast rituellen Aussprache dieses Wortes eine magische oder namenhafte Kraft, die ganze Welt, alle Erinnerungen, Farben und Gerüche, ja im Grunde einen gesamten, nämlichen den alteuropäischen Lebenszusammenhang auszudrücken. Adorno hat ja den Namen fast als ein Erkenntnisideal verstanden, weil er die einzige linguistische Gegebenheit ist, die sich nicht auf das Besondere, sondern auf das Einzelne richtet.

Ganz ähnlich verhält mit dem Wort »Paris« in demselben Radiogespräch. Adorno spricht das Schluss-»S« des Namens so lang, pointiert, gleichsam verhauchend, aus, dass man tatsächlich zur nächsten Assoziation, nämlich der sich durch die Stadt ziehenden Seine, des Flusses, der sie teilt und zusammenhält, geführt wird.

Das scheint mir die erste Eigentümlichkeit von Adornos Art und Weise, sich zu artikulieren, dazustellen. Die Freigabe des Einzelnen, die anti-organizistische Überzeugung, dass die Summe, oder, mit Adorno ausgedrückt, die Konstellation der Teile mehr ist als das Ganze, schlägt sich eben auch in einer Redeweise nieder, die einem beim Zuhören immer wieder dazu verführt, auf die Synthesis der syntaktischen Großkonstruktionen zu verzichten, und sich dem Klang, dem quasi-körperlichen Triebleben der Worte, hinzugeben.

Die zweite Eigentümlichkeit hängt damit zusammen, setzt aber einen etwas anderen Akzent. Die Absetzung der Worte voneinander führt im Ganzen sicherlich dazu, dass die Satzmelodie bei Adorno schwächer ausgeprägt ist als bei vielen anderen Rednern. Man erkennt darin auch den Versuch, um jeden Preis irgendwelche Melodiestereotype zu vermeiden. Es sind eben diese prosodischen Klischees gewesen, durch die die faschistische Propagandastimme sich den Menschen einhämmerte und jede Besinnung auf den Inhalt des Gesagten auszuschalten trachtete. Adornos Rede negiert sozusagen die tonale Organisationsstruktur der öffentlichen Stimme - einer Stimme also, die von melodischen und prosodischen Stereotypen lebt, welche den Hörer mit Vertrautheit umschmeicheln und ihn in eine Wolke prosodischer Erwartungshaltung hüllen. Sie setzt demgegenüber auf die Gegenwart und auf die Lücken zwischen den einzelnen Bedeutungsimpulsen. In diese Lücken, so ließe es sich mit einer Formulierung von Brecht sagen, soll der der Zuhörer »mit seinem Urteil dazwischenkommen«. Das heißt, Adornos Rede ist nicht dramatisch, sondern episch -: ›episch‹ in dem spezifischen Sinne, in dem Brecht den Begriff verwendet: Kritik am Drama, Kritik an der organischen Ganzheit des Dramas und seines syntaktischen Urbilds: des Satzes.

Nun scheint freilich gerade dieses Moment, das der mündlichen Diktion Adornos anhaftet, in der Schriftform verlorenzugehen. Auf welche Weise ließ es sich retten? Auf welche Weise ließ sich das bereits in der Diktion angelegte konstellative Moment in der Schriftgestalt der Texte aufrecht erhalten und eben weitertreiben? Adornos Überarbeitungstechnik lässt sich durchgehend als Antwort auf diese Fragen verstehen. Er verkürzt, er schafft Lücken, er tilgt alles monologisch Erzählende: kurzum, er verwandelt die Konstellation der Worte im Satz in die Konstellation der Sätze im Text.

Das kann man auch so ausdrücken, dass sich die monologische Gestalt der mündliche Rede durch die Überarbeitung in ein virtuelles Gespräch verwandelt. Wenn dieselbe Sache von verschiedenen, ineinander nicht aufgehenden Seiten beleuchtet wird - das ist ja der Kern des Konstellationsbegriffs -, wenn es zwischen den verschiedenen Gesichtswinkeln Lücken, kommunikative Schiefstellungen und sozusagen Missverständnisse gibt, dann kann man das als ein Gespräch im Text beschreiben. Trotz ihres manchmal etwas monolithischen Außenwirkung sind Adornos Texte Polyloge. Durch die Verwandlung der Stimme in die textuelle Konstellation wird sie demokratisiert.


Andere Stilmittel

Ich möchte noch auf zwei weitere Stileigentümlichkeiten hinweisen, die mir in dieselbe Richtung zu weisen scheinen wie das Phänomen der kurzen Sätze. Sie dienen, kurz gesagt, ebenfalls dazu, den philosophischen Text zu entlinearisieren, den Monolog in ein Gespräch, den Beweisgang in eine Materialsammlung zu verwandeln. Nicht, dass Adornos Texte ungeordnet wären. Aber es haftet ihnen doch gegenüber der etablierten Ordnung des philosophischen Diskurses etwas Dekonstruktives an. Es wäre zuviel gesagt, dass sie das Haus niederreißen und einen Steinbruch zurücklassen. Aber sie weisen doch darauf hin, dass das Haus niemals fertig sein wird und dass deswegen die Aufgabe jeder Leserin darin besteht, das Begonnene fortzusetzen. Jene Ordnung wird soweit beschädigt, dass siezum Organ ihrer eigenen Kritik wird, indem sie ihre prinzipielle Schadhaftigkeit und Unvollständigkeit bloßstellt.

Adornos Sätze sind um das Verb herum organisiert. Das Verb ist das Zentrum, die eigentliche Kraftquelle seines Denkens. Als ich Adorno kennenlernte, fiel mir vor allem auf, wie originell die Verben sind, mit denen er arbeitet. Worte wie »verjüngen« oder »überflügeln« erregten mein Interesse. In diesem Betracht unterscheidet Adorno sich ganz wesentlich vom Nominalstil, der in der Wissenschaft immer schon eine gewisse Dominanz besaß, seit Adornos Tod aber eine wahrhaft totalitäre Herrschaft über die gesamten Geisteswissenschaften ausübt. Geist, um es einmal pathetisch zu formulieren, steckt bei Adorno in der Aktion, die das Verb ausdrückt, bei den anderen in dem selber sprachlich nicht artikulierten, weil meistens bloß durch Modalverben gefüllten Verhältnis der Substantive zueinander. Daher sind Adornos Einzelsätze wiederum bestimmter als in der traditionellen Wissenschaft. Dahinter wird die Intention erkennbar, als Kraftzelle des eben doch recht statischen Nebeneinanders der Sätze im Text die geistige Aktivität selber sichtbar zu machen. Adorno vertauscht das Verhältnis von Statik und Dynamik gegenüber den wissenschaftlichen oder philosophischen Texten konventioneller Machart: Der Dynamik des Beweisgangs, der zwingend mit sich fortreißenden Logik des Schlussverfahrens setzt er die relative Statik der Konstellation entgegen, und der nominalen Statik der Innenbeziehungen im Satz die Dynamik eines geistigen Prozesses, der vom Verb austrahlt. Diese geistige Triebbewegung soll vom Leser aufgenommen und fortgeführt werden. Es sind Impulse, die der Text in alle Richtungen abgibt, ohne dass sie in ihm selbst fortgeführt und eingelöst werden würden.

Die sogenannte Postposition des Reflexivpronomens ist eine der Eigentümlichkeiten, die wohl den größten Spott gezogen und den Ehrgeiz der Adorno-Imitatoren beflügelt haben. Ich will auch nicht abstreiten, dass dieses Charakteristikum bisweilen zur Marotte wird. Dennoch scheint es mir nicht fruchtlos zu sein, sich darüber zu verständigen, was Adorno denn damit beabsichtigt haben könnte. Mir scheint der Sinn darin zu liegen, den Moment, in dem der Satz sich schließt und eine sozusagen geschlossene Sinngestalt annimmt, so lange wie möglich hinauszuzögern. Sätze, das heißt also Reflexivsätze, die so gebaut sind wie bei Adornos, halten die Dinge, die verhandelt werden, so lange wie möglich in der Schwebe; es ist wiederum am Leser oder am Hörer, sie in ein Verhältnis zu bringen, bevor nachklappend, und gewissermaßen nolens volens der Sack zugemacht wird und der Satz zu seiner endgültigen Figur findet. Was sich hierin zeigt, hängt wiederum mit den Inhalten von Adornos Philosophie auf das engste zusammen: mit dem Versuch nämlich, nicht organisch gebaute, sondern konstellativ organisierte Sinnbilder herzustellen, in denen das Ganze das Einzelne nicht beherrscht und von ihm eben diejenigen Momente wegschneidet, die nicht dem Diktat des Sinns sich unterwerfen, sondern in denen das Ganze eine Figur bildet, die das Einzelne in gewisser Weise erst freigibt und ihm seinen Eigensinn lässt. Jede Erkenntnis verfährt identifizierend und sie muss sich in Sätzen aussprechen, die letztlich nach einem organisch-teleologischen Modell von Ganzheit organisiert sind sind oder dies wenigstens prätendieren. Aber sie kann zumindest versuchen, diesen Imperativ der Erkenntnis maximal zu belasten. Und Adornos rhetorisches Verfahren, den genauen Sinn der einzelnen Glieder des Satzes maximal in der Schwebe zu lassen, zielt eben in diese Richtung.

Diese Verfahrensweisen zielen dahin, den einzelnen Satz zum Schauplatz einer leidenschaftlichen, ja im Grunde triebhaften geistigen Aktivität zu machen, und demgegenüber das Verhältnis der Sätze zueinander zu neutralisieren. Heiß sind Adornos Texte im einzelnen Satz; kalt sind sie in der Abfolge und im Verhältnis der Sätze zueinander. Durch dieses Wechselbad geht jeder, der sich mit diesen Texten beschäftigt. Sie setzen damit aber das Einzelne und das Ganze, den Satz und das Argument in ein prinzipiell anderes Verhältnis als der traditionelle philosophische Text. Das Einzelne hat Vorrang, es produziert einen Überschuss, der vom Ganzen nicht eingelöst wird und auch nicht eingelöst werden kann. Im traditionellen Text ist demgegenüber das Einzelne bedeutungsos gegenübe der Funktion, die es für das Ganze innehalt. Es hat als Einzelnes kein Eigenrecht und konvergiert tendenziell gegen Null. Daher die Affinität der traditionellen Philosophie zur formalen Logik. In den Zeichensystemen der formalen Logik drückt sich das Ideal eines Erkenntnisprozesses aus, der von Nichts zu Nichts fortschreitetund in dem jedes Einzelne nur das bedeutet, was es im Rahmen des Ganzen bedeuten soll und was sozusagen schon von Beginn an über es verhängt ist. Das philosophische Schrifttum heute ist in diesem Sinne weithin traditionelle Theorie.


Gespräch und geistige Erfahrung

Was ist aber der Sinn, der hinter diesen Verfahrensweisen steht? Warum will Adorno den Leser zum emanzipierten Produzenten ermächtigen? Welches Ziel verfolgt er mit dem in sich gebrochenen, konstellativ organisiserten Text?

Es ist die Organisation geistiger Erfahrung - einer Erfahrung, die kein philosophischer Text produzieren kann, sondern die allein entsteht, wenn man sich ihn - nach Möglichkeit gemeinsam - aneignet. Der Text ist ein Gespräch, die Sache ein Verhältnis von Menschen. Ein Gespräch zwischen Menschen aber, das nicht monolitisch und offenbarungsgleich dasteht, sondern die gemeinsame Figur verschiedener und verschiedenartiger Erfahrungen zu Sache verkörpert, eine Synthesis also, in der das Ganze nicht mehr ist als die Summe ihrer Teile, sondern ihre sich bedeutungshaft transzendierende Konstellation, ist eine kollektive geistige Erfahrung. Es handelt sich um einen Moment im Gespräch - und es ist nur möglich, in einem Gespräch diese Erfahrung zu machen -, in dem sich das Gefühl einstellt, ganz plötzlich eine gemeinsame Erkenntnis gemacht zu haben, etwas Neues zu sehen und wenigstens im Ansatz formulieren zu können, das es vorher noch nicht gab. Es entsteht hier für Momente eine kollektive Intelligenz. Manchmal weiß man ein paar Tage später gar nicht mehr so genau, was man da eigentlich begriffen hatte; was aber zurückbleibt, ist eine immense Glückserfahrung. Das ist das Glück des Geistes, das Glück der Wissenschaft, das ist der Grund, aus dem man eigentlich studiert, und es ist eine Erfahrung, die, wenn nicht alles täuscht, an der Universität ziemlich rar geworden ist. Um dieses unratifizierbare, uneinholbare, unbelangbare, aber gleichwohl absolut zentrale Moment, ohne das es gar keinen Geist gibt, sind Adornos Texte gebaut. Das ist Adornos ungeschriebene Lehre, und sie ist der Platonischen nicht einmal unähnlich. Wie kann man den Leser zum Produzenten machen? Wie kann man Texte so verfassen, dass sie dazu ermutigen, kollektiv daran weiterzuarbeiten? Also: Wie kann man so schreiben, dass das Geschriebene mehr ist als neutrales Bildungsgut oder Gegenstand des universitären Curriculums, sondern lebendige Produktivkraft des Geistes? Adornos Arbeitsweise ebenso wie die Form seiner Texte gibt darauf nicht die einzige mögliche, aber eine wie ich finde, außerordentlich einleuchtende Antwort.